Foto: Fernando del Berro

Ein Leben gegen das Sterben


Wenn Sie auf diese Seite anderthalb Stunden lang lesen, haben sich in dieser Zeit drei indische Bauern umgebracht. Ein Massensuizid, gegen den der Journalist und Aktivist Palagummi Sainath sein Leben in die Waagschale wirft.

dummy - März 2020
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Als Mallappa ein junger Mann war und sein Feld reich an Bohnen und Erdnüssen, da war der Fluss am Rande seines Dorfes so mächtig, dass er seiner kleinen Tochter Laxmi Devi das Spielen am Ufer streng verbot. Doch mit den Jahren zogen die Dürren immer länger über sein Land und dörrten seinen Acker aus, bis er karg und rissig war. Dabei verkümmerte der Strom zum Fluss, zum Bach, zum Rinnsal – und verschwand schließlich ganz im Sand.

Mallappa blieb keine Wahl als einen Teil seines Ackers zu verkaufen, um einen Brunnen zu graben. Als der wenig später austrocknete, verkaufte er eine weitere Parzelle und grub einen neuen Brunnen, der ebenfalls bald versiegte. So wie der danach und der danach. Mit den Jahren schrumpfte Mallappas Acker und auch Mallappa selbst schien von der ewigen Dürre grau und ausgelaugt. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als immer weiter Schuldenaufzunehmen, die er mit den kommenden Ernten bezahlen wollte. Je seltener die Ernten wurden, desto häufiger kamen jetzt die Geldeintreiber.

Am 9. August 2018 sagte Mallappa seiner Frau, er fahre in die Stadt, um neues Werkzeug zu kaufen. Sein Entschluss, der Ausweglosigkeit zu entfliehen, stand da bereits fest. Um seiner Familie keine weiteren Umstände zu machen, besorgte er alles Nötige – für seine eigene Beerdigung. Ein weißes Totentuch für seinen Leichnam, Armreifen für seine Frau, etwas Weihrauch, eine Girlande und ein laminiertes Selbstporträt, das später in seinem Haus aufgestellt werden sollte. Er fuhr zurück ins Dorf und tötete sich neben seinem ausgelaugten Acker.

Der Familienvater ist tot, die Dürre ist geblieben. Und die Schulden auch. Die hat sein Sohn geerbt, umgerechnet 3.600 Euro. Nach einigen Jahren des vergeblichen Kampfes bleibt ihm womöglich nichts anderes übrig, als jener Schritt, der ihn wie den Vater vom Leid erlöst und alle Last auf die Schultern des nächsten Sohnes lädt. „Ist es das, was aus der Landwirtschaft geworden ist?“, fragt Mallappas Tochter Laxmi Devi in einem Brief an ihren verstorbenen Vater. „Warum tun sich die Leute das noch an? Warum tut die Regierung nichts für uns? Ich vermisse dich, Papa.“

Mallappas Fall ist kein Einzelschicksal in Indien – er ist ein Massenschicksal. Zwischen 1995 und 2016 haben sich laut Regierungszahlen 333.407 Landwirte umgebracht. Das entspricht der gesamten Bevölkerung Islands. Das sind 43 Bauern pro Tag, die sich selbst töten, weil sie keine Hoffnung mehr haben, jemals ihre Schulden loszuwerden. Das Problem bestand schon als die Sozialliberalen das Land regierten und es besteht weiter unter den Hindunationalisten, die 2014 an die Macht gekommen sind.

So ungeheuer die Zahlen klingen, es handelt sich dabei um offizielle Statistiken einer Regierung, der viel daran gelegen ist, die Situation zu beschönigen. Experten vermuten, dass die tatsächliche Opferzahl weit höher liegt. So werden Ehefrauen von Landwirten, die sich nach dem Suizid ihres Mannes häufig auch töten, lediglich als Ehefrauen und nicht als Landwirtinnen gezählt – weshalb sie nicht in den offiziellen Statistiken auftauchen. Und auf 100 Suizide kommen Tausende Verzweifelte, deren Versuche misslungen sind oder die eine Depression fest im Würgegriff gefangen hält. Jahrzehntelang wurde dieser Zustand schlichtweg ignoriert.

Die Bauern fühlen sich vergessen von der eigenen Regierung, überrollt von multinationalen Konzernen und der erbarmungslosen Wirtschaftspolitik der westlichen Industrienationen. Die Gründe für ihre katastrophale Lage sind vielfältig. Dazu zählen auch die verheerenden Dürren und Hochwasser der vergangenen Jahre. Doch folgenschwere Ereignisse wie diese gab es immer wieder in Indien. Neu ist Dimension der Hoffnungslosigkeit. Denn im Unterschied zu heute haben die Bauern damals ihre Unterstützung aktiv eingefordert, haben den Verkehr lahmgelegt oder einem untätigen Minister das Haus abgefackelt.

Auch damals war der Feind größer als sie, heute aber ist er übermächtig. Er sitzt irgendwo in Delhi und New York und Genf in gläsernen Festungen, zeigt sich beim Verteilen von Hilfsgeldern als großherziger Philanthrop und zieht doch mit jedem neuen Beschluss die Daumenschrauben für die Schwächeren weiter an.

Die Subventionsfeldzüge des Westens überschwemmen den Markt mit billigen Importen und drücken die Einnahmen der indischen Bauern. Gleichzeitig haben sich die Kosten für Samen, Dünger und Pestizide seit den Neunzigerjahren vervielfacht. Man muss kein Wirtschaftsweiser sein, um hier ein strukturelles Problem zu erkennen. Um zu überleben, nehmen viele Bauern Kredite zu horrenden Zinsen auf, die sie oft nicht tilgen können. Die meisten Verzweifelten töten sich schließlich, indem sie eben jenes Insektenvernichtungsmittel trinken, das sie einst in die Schuldenfalle getrieben hat. Ein quälender Tod, bezahlt mit einem weiteren Kredit.

Verantwortlich dafür, dass man die Massensuizide in Indien heute als gesellschaftliches Problem akzeptiert, ist der Journalist PalagummiSainath. Seine Mission ist es, jenen Bauern eine Stimme zu geben, denen im fernen Delhi niemand zuhört. Dieser Kampf hat ihm viel Ehre eingebracht – und seine Gesundheit ruiniert. Heute ist er ein gebrochener Mann, der zu weit gegangen ist, um jemals aufhören zu können. Unter seinen Augen liegen tiefe Ringe, so dunkel und hoffnungslos wie der ausgedörrte Acker Mallappas.

Für Sainath liegen die Gründe für die neue Hoffnungslosigkeit in der galoppierenden Ungleichheit, einer erbarmungslosen Wirtschaftspolitik des Westens und der Rücksichtslosigkeit multinationaler Konzerne. Wer ihn nach Belegen fragt, wird beschossen mit Zahlen und Statistiken. Etwa, dass es 1991 noch keinen einzigen Dollar-Milliardär im Land gab, während es 2019 schon 134 waren. Im Schnitt produziert Indien jeden Tag 70 neue Dollar-Millionäre. Gleichzeitig lebt immer noch über die Hälfte der Menschen im Land von weniger als 2,90 Euro am Tag. Oder, dass die US-Amerikaner ihren Farmern 2019 fast 800 Milliarden Euro an Subventionen ausgezahlt und gleichzeitig über die Welthandelsorganisation WHO Indien dazu gezwungen haben, ihre vergleichsweise mageren Subventionen noch weiter zu kürzen. „Heute reglt der Markt die Preise auf den indischen Ackern, und immer mehr Bauern hungern“, sagt Sainath. Über die Hälfte der 1,3 Milliarden Menschen in Indien arbeiten in der Landwirtschaft – drei Viertel von ihnen würden ihren Beruf sofort aufgeben, wenn sie eine Alternative hätten. Haben sie aber nicht.

Sainaths Geschichte beginnt in den frühen Achtzigerjahren. Der junge Journalist wird damals von der renommierten Wochenzeitung „Blitz“ aus Bombay aufs Land geschickt, um die Dürre jener Jahre zu beschreiben. Er fährt auf die Dörfer, spricht mit Verzweifelten, sieht ihre Kinder sterben und schreibt über das Elend. Die Geschichten sind rührend, die Chefs angetan. Als Sainath dafür einige Preise verliehen bekommt, holt er sie nicht ab. Nach seiner Rückkehr sei er nicht mehr derselbe gewesen, erzählt er heute, fast 40 Jahre später. „Keine der Geschichten hat wiedergegeben, was ich erlebt habe“, sagt Sainath, er habe zu sehr versucht, selbst alles zu erklären, statt den Betroffenen das Wort zu überlassen. Er hat gemacht, was bis dahin alle gemacht haben: vor Ort ein paar Zitate und Szenen gesammelt und die Einordnung den Experten aus den Großstädten überlassen. Heraus kamen hübsche Geschichten mit rührigen Einstiegen, wie auch jener zu Beginn dieses Textes – Zeilen, in denen sich alles in eine einfache, traurige Erzählung fügt und in der die Toten noch nicht einmal einen Nachnamen haben. Für Sainath ist diese vordergründige Betroffenheit und eigentliche Gleichgültigkeit ob der fernen Leben ein Grund für die Misere: „All diese Kinder, die ich habe sterben sehen, könnten heute leben, wenn wir Journalisten unseren Job gemacht hätten.“ Dieser Gedanke verfolgt ihn. Er treibt ihn an. Bis heute.

In den Neunzigerjahren bekommt Sainath ein Stipendium, um die verheerenden Auswirkungen der marktwirtschaftlichen Öffnung seines Landes für die ländliche Bevölkerung zu beschreiben. Ein Wandel, der in den Großstädten beschlossen und auf dem Land vollzogen wurde. Sainaths Plan: Eine Reise durch die zehn betroffensten Gebiete, um den Ungehörten eine Stimme geben. In jedem Dorf bleibt er zwei Monate, verdient sich das Vertrauen der Leute – und ist schon im zweiten Ort pleite. Um weitermachen zu können, verkauft er seine Ausrüstung und veröffentlicht seine Geschichten in der damals noch respektablen Times of India“.

Wieder bekommt er Preise – diesmal nimmt er sie an. Zum einen weil er abgebrannt ist, zum anderen aber, weil er nun endlich seine Form des Journalismus gefunden hat. Sie kommt ohne altkluge Erzähler aus und überlässt den Betroffenen das Wort. Eine mühsame Disziplin, die ihn berühmt und im ganzen Land Schule machen wird. Am Ende besucht Sainath 19 Gebiete und legt mehr als 100.000 Kilometer zurück – viele davon zu Fuß. Er ist in Höchstform und schläft kaum mehr als drei Stunden in der Nacht, aber das macht ihm nichts. Er hat seine Berufung gefunden.

Dann kommen die Suizide.

„Bis zu diesem Zeitpunkt hat mir nichts Angst gemacht“, sagt Sainath, „ich habe schreckliche Dinge gesehen, doch solange ich Menschen treffe, die sich gegen ihr Schicksal auflehnen und ums Überleben kämpfen, gibt mir das Hoffnung. Aber die Bauernsuizide waren eine neue Dimension. Da war kein Silberstreifen mehr am Horizont. Da war nur Dunkelheit.“ Wer drei Haushalte besucht und in den Augen der Witwe schon die Vorbereitung des eigenen Todes gesehen habe, in dem verändere sich etwas, sagt er. Sainath hat bis heute über 900 solcher Familien besucht. Dass er den Hinterbliebenen nichts Tröstendes sagen kann, hat ihn krank gemacht. Sein Blutdruck zerreißt ihm die Blutgefäße, er leidet an einer Belastungsstörung, seine Zähne hat er bis zur Hälfte heruntergemahlen und er schläft immer noch kaum länger als drei Stunden pro Nacht. Heute macht ihm das etwas aus. Neulich haben sie ihm – der Stimme der Stimmlosen – das rechte Stimmband entfernen müssen.

Er hat seine Unversehrtheit verloren – aber er hat erreicht, dass man die toten Bauern in Indien endlich sieht. Zwischen 2004 und 2010 veröffentlicht Sainath jede Woche ein langes Stück über die Zustände im ländlichen Indien. Jede Woche müssen die Stadtbewohner eine neue Geschichte über einen Bauern lesen, der Insektengift schluckt, weil er keine Hoffnung mehr in einem Leben voller Schulden sieht. Die Wiederholung wirkt. Heute weiß jedes Schulkind im Land, dass die indische Landwirtschaft in einer ernsten Krise steckt. Das Problem ist damit nicht gelöst, aber es ist wenigstens auf dem Tisch.

Angesichts des millionenfachen Leids der Bauern, das er zu seinem Lebensthema gemacht hat, wird Palagummi Sainath selbst nicht hoffnungslos. Er wird wütend. Er klagt jeden an, der ihm unterkommt. Bei Vorlesungen verflucht er die Rücksichtslosigkeit des Westens, nennt die Verantwortlichen „motherfuckers“ und geißelt jeden, der es sich einfach macht und das Unrecht an Schwächeren akzeptiert. Angetrieben von jener hilflosen Wut, die er aus den Hütten der Witwen in die Großstadt trägt.

Die Wut liege in seiner Familie, sagt er. Sainath ist ein Enkel des Freiheitskämpfers und späteren Präsidenten Indiens, Varahagiri Venkata Giri. An seinem Stammbaum hängen die Freiheitskämpfer wie fette Äpfel in den Ästen. Es sind bis heute die Helden dieser stolzen Nation, deren fast hundertjähriger Kampf gegen die britischen Kolonialherren Indien 1947 in die Unabhängigkeit führte. Wenn er einmal gar nicht mehr weiter wisse, dann besuche Sainath die Weggefährten seines Großvaters, die letzten noch lebenden Freiheitskämpfer seines Landes. „Die sind hoch in den neunzig“, erzählt er, „und die sagen mir jedes Mal: ‚Wir haben schon Schlimmeres gesehen, hör nicht auf zu kämpfen!‘“

Mit seinem aktuellen Projekt, dem People’s Archive of Rural India, will Sainath nun den Blick auf das ländliche Indien weiten. Statt nur die Schattenseiten zu zeigen, will er mit einer Armee Freiwilliger die Geschichten und Traditionen des so facettenreichen Subkontinents für die Nachwelt erhalten. Ein größenwahnsinniges Projekt, das nicht weniger will als den Alltag alltäglicher Leute in Indien aufzuzeichnen. Es ist ein Appell an den Stolz der Bauern auf ihre Arbeit, ihr Land, ihre Bedeutung für die Gesellschaft. Es ist ein Versuch, ihnen wieder Hoffnung zu geben und ihre Stimmen unüberhörbar zu machen. Es ist Sainaths Vision vom Ende der Suizide der Bauern in Indien. ---

︎