
Die Geschichte vom Retter Rost
Alte VW-Transporter verstauben in Scheunen, verrotten im Eis, vergammeln im Unterholz – bis die Bulli-Retter anrücken. Mit Seilwinde, Spitzhacke und Helikopter.
Walden - März 2018
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Cool bleiben. Unbedingt cool bleiben. Florian George kann kaum klar denken, so sehr muss er sich zusammenreißen, aber ihm darf jetzt einfach kein Fehler unterlaufen. Vor ihm steht ein älterer Herr, ein Pilzsammler aus der Region, und was der ihm ganz beiläufig erzählt, wirkt auf ihn wie eine Ecstasy-Pille auf nüchternen Magen. Er beherrscht seine Züge. Reglos steht er da, in seiner Einfahrt, während in ihm alles tobt und schreit und er am liebsten sofort losrennen würde.
Florian George ist Schatzsucher. Um seine Miete zu bezahlen, baut er Internetseiten; um glücklich zu sein, rettet er alte VW-Busse. Und mit alt meint er wirklich alte. Der erste Bulli der Welt, ein T1, lief 1950 vom Band – dieses Jahr ist Florians Fixstern. Mit jedem Baujahr Abweichung von dieser magischen Marke schwindet sein Interesse. 1,8 Millionen T1 wurden zwischen 1950 und 1967 gebaut. Die allermeisten dürften längst verschrottet sein, und die Überlebenden sind rar und teuer. Das Nobelmodell, ein Samba-T1 mit 23 Fenstern, kostet heute in gutem Zustand bis zu 100.000 Euro. Und in sehr schlechtem immer noch 10.000. Eindeutig zu viel für Florian.
Da sich Budget und Leidenschaft des 30-Jährigen Webdesigners einfach nicht vertragen, hat er sich auf die schwierigen Fälle verlegt: Wracks, deren Wert nur Bulli-Jäger seines Schlags erkennen. Häufig gammeln diese vernachlässigten Veteranen irgendwo im Hinterland vor sich hin, erst vom Besitzer vergessen, dann von der Zeit. Bis Florian auftaucht.
Seine Funde hat er schon aus norwegischen Eisseen gehackt, mit dem Helikopter aus schwedischen Sümpfen geborgen oder mit der Seilwinde aus kanadischen Wäldern geschleppt.
Nur in Deutschland, dem Mutterland des Bullis, hatte er bislang keinen Erfolg. Dort kennt man wohl deren
Wert zu gut, als dass man sie sich selbst überlassen würde.
Einmal geborgen, restauriert Florian einen Bus so lange, bis er ein noch älteres Exemplar aufgetrieben hat und den Vorgänger wieder verkauft. Zwölfmal hat er die Busse nun schon getauscht. Heute steht in Florians Garage der drittälteste jemals gebaute Fenster-Bulli.
Gewinn hat der Franzose mit seinen Rettungsaktionen nie gemacht, schließlich fährt er Hunderte Kilometer für ein einzelnes Original-Ersatzteil, werkelt wochenlang an den Wracks und ruht nicht, bis sein Patient mindestens so neu aussieht wie beim Durchfahren des Wolfsburger Werkstors Mitte des vergangenen Jahrhunderts.
Und jetzt erzählt ihm dieser Mann hier, er habe vor 15 Jahren ein ähnliches Exemplar zwischen Champignons im Wald entdeckt. Mitten in der Chartreuse, wenige Stunden Fußmarsch von Florians Haus in den französischen Alpen, nordöstlich von Grenoble.
Eine schlaflose Nacht später bricht Florian im Morgengrauen auf.
Die Karte in der Linken, das Handy in der Rechten und den weichen Septemberwaldboden unter den Sohlen, durchpflügt er das Unterholz im voralpinen Kalksteinmassiv seiner Heimat. Nach Stunden erfolglosen Suchens trifft er endlich auf einen Jäger. Ein alter VW-Bus? Hier? Ausgeschlossen! Er kenne die Gegend wie sich selbst, winkt der Wildschütz ab, schließlich sei er hier geboren und obendrein Volkswagen-Enthusiast. Läge im Umkreis von 30 Kilometern ein Bulli im Wald, er wüsste davon. Waidmannsheil!
Florians Schritte werden schwerer. Hat ihn der Pilzsammler auf eine falsche Fährte gelenkt? Wurde der Schatz bereits von einem anderen gehoben?
Keine fünf Minuten später tritt Florian auf eine farnbewachsene schmale Lichtung, die der Jahreszeit und dem dichten Kronenstand zum Trotz in jungem Grün erstrahlt. An ihrem Rand lugt rostiges, blaues Blech zwischen den Stämmen hervor. Florian hält den Atem an, noch könnte es irgendein Transporter sein. Die offene Flanke liegt hinter rosti- gem Wellblech, das Fahrzeug wurdem wohl einst zur Behelfshütte ausgebaut.
Erst als er es umrundet und das große VW-Logo zwischen den müden Scheinwerferhöhlen erkennt, hat er Gewissheit: ein Volkswagen, T1, Baujahr 55. Er öffnet vorsichtig die Bei- fahrertür. Aus dem Fußraum kriecht giftgrüner Moosflaum, weiter über das Armaturenbrett zu den Fenstern und Holmen und bis in die kleinsten Ritzen. Die Scheiben sind fast blind, in den Fensterfugen wohnen Insekten. Offensichtlich unterscheidet die Natur seit Jahrzehnten nicht mehr zwischen Wald und Wageninnerem. Wenige Stunden später hat er im nächsten Dorf den Eigner des Waldstückchens ausfindig gemacht.
Der Waldbesitzer lacht über den vollbärtigen Jungspund und seine Flausen. Der Bus stehe da schon mindestens seit den Siebzigerjahren, sagt er, jahrelang habe ein Freak darin gehaust, ein Hippie oder Eremit oder was auch immer, wirre Inschriften habe der hinterlassen, sei aber längst verschwunden. Den Haufen Schrott könne Florian zwar geschenkt haben, aber er werde ihn kaum bewegen können, es fehle nämlich der Motor, der sei weg, einfach verschwunden. Als Florian – eine Spur zu früh – den vorbereiteten Kaufvertrag aus der Tasche zieht, wird sein Gegenüber stutzig. Der junge Mann meint es wirklich ernst… Plötzlich kostet der Bus fünfhundert Euro. Florian greift in die andere Tasche und zählt dem Vorbesitzer schnell das Geld in die Hand, bevor der Preis noch weiter steigt.
Florian George ist im Norden Frankreichs und mit einem älteren Bruder aufgewachsen, der Sommer für Sommer mit seinem VW-Bus in den Urlaub verschwand und in seinem jüngeren Bruder die Sehnsucht nach Natur und Freiheit untrennbar mit diesem Auto verband. Noch bevor Florian seinen Führerschein bekam, kaufte er sich einen VW-Bus. Das Bulli-Wissen brachte er sich selbst bei. Seitdem ist er nicht besonnener, sondern besessener geworden. Zum Glück ist er damit nicht allein.
Mit dem Kaufvertrag in der Tasche ruft er seine Freunde an und erzählt von seinem Fund – allesamt Bulli-Freaks, die sich von Camper-Treffen kennen. Zwei Tage später stehen sie zu fünft vor Florians Haus. Alle haben sich für die Rettungs- aktion spontan freigenommen, einer ist über Nacht aus Südfrankreich angereist, ein anderer aus Paris. Sie wissen, dass sie einen solchen Schatz vor der Haustür wahrscheinlich kein zweites Mal geboten bekommen. Wenig später beladen sie ihre Autos und brechen auf.
Doch kurz vor ihrem Ziel bleiben sie stecken, denn in den vergangenen Tagen hat es durchgehend geregnet. Der Herbstboden rund um den Fundort gleicht einer gigantischen Suhle, sodass ihnen keine andere Wahl bleibt, als ihre Autos stehen zu lassen und loszumarschieren. Dutzende Ersatzteile, vier geländefähige Reifen samt Felgen sowie einen Motor müssen sie zum Bulli-Wrack transportieren. Ein weiteres Problem: Die meisten von ihnen haben nur zwei Tage Urlaub. Die Zeit spielt gegen sie.
Also teilt sich die Gruppe auf. Die einen tragen leichte Teile vorweg und legen sofort mit der Reparatur los. Die anderen schleppen, schleifen und hieven derweil die schweren Teile durch den Morast zum Ziel auf 1300 Meter Höhe. Alle halbe Stunde wechseln sie sich ab. Die Zeit läuft, der Schweiß auch – und zwischendurch hilft ein kräftiger Schluck Chartreuse, ein Kräuterlikör, mit dem sich die ortsansässigen Kartäusermönche seit bald tausend Jahren durch die Tannenwinter retten.
Irgendwann ist alles auf die Lichtung gewuchtet, sogar ein Stromgenerator und eine Musikanlage aus deren Boxen Bob Dylan und Nick Drake klingen, während die fünf Freunde in ihrer Freiluftwerktstatt zwischen Piniennadeln und Spinnen- netzen ein neues Bremssystem einbauen und das Chassis stabilisieren. Einmal muss Florian noch zum Händler ins Tal hinabsteigen und Teile nachkaufen, ansonsten läuft alles nach Plan.
Es riecht nach feuchtem Waldboden, während die Bastler Leitungen legen. Ein Specht hämmert in der Ferne, als sie die Räder aufziehen, und irgendwo wundert sich vielleicht ein Reh, als am Abend zum ersten Mal nach fünfzig Jahren der blaue Bus im Tannendunkel wütend spuckend anspringt. Doch bald ist es später als gedacht und der Likörvorrat gut dezimiert. Florian und ein Freund schlafen in einer verlassenen Schutzhütte in der Nähe, zwei andere steigen ab zum Transporter, mit dem sie gekommen sind. Einer macht es sich mit dem Schlafsack im Bulli bequem und bewacht den Schatz von innen.
Am nächsten Morgen tasten sie sich mit ihrem greisen Mobil behutsam über Wurzeln und Steine, als führten sie ihre eigene Urgroßmutter durchs Unterholz. Drei gehen voran und ebnen den Weg, so gut es geht, mit Kettensäge, Schaufeln und einer Menge Unterlegbretter. Nach dem Dickicht müssen sie über schlammige Forstpfade. Die größte Sorge macht ihnen aber die dritte Etappe: die steile Abfahrt auf der geschotterten Bergstraße. Dafür haben sie eigens das neues Bremssystem installiert.
Als sie wohlbehalten vor Florians Haus angekommen sind, staunen selbst die erfahrenen Busfreaks über die Unbeugsamkeit des Wolfsburger Blechs. Vieles haben sie nur behelfsmäßig repariert; Florian wird das Meiste davon noch einmal ordentlich restaurieren.
Bevor sie sich verabschieden, versprechen sie einander, im nächsten Sommer, wenn der Bus wiederhergestellt ist, mit ihm zurück an seinen Fundort zu pilgern. Dort mit einer Flasche Chartreuse auf seine Wiederauferstehung anzustoßen. Und auf den Bulli als solchen.
Die müden Conventions, zu denen sich Sammler auf Parkplätzen treffen und gegenseitig ihre Busse zeigen, haben für sie an Reiz verloren. Ihre schweißtreibende Nacht im Wald hat sie gelehrt, worin der wahre Wert eines Bullis liegt: Freiheit.
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