Illustration: Ika Künzel

Ein guter Deal


Der Drogenhandel im Internet mischt eine altgediente Branche auf – und macht ein schmutziges Geschäft sauberer.

brand eins - März 2016
(Link / Audio)



Neuer Markt

Wer heutzutage Drogen kaufen will, der muss nicht mehr mit zwielichtigen Gestalten im Stadtpark feilschen, sondern kann bequem von zu Hause aus bestellen. In den vergangenen Jahren ist in den schattigen Ritzen des Internets ein vitaler Handel mit allerlei Verbotenem herangewachsen, dessen Blüte mit einem kurzen Bericht des Blogs „Gawker“ im Juni 2011 begann. Dort war die Rede von der im Februar jenes Jahres lancierten Untergrundseite namens Silk Road, „auf der man jede vorstellbare Droge kaufen kann“. Bis Juli 2013 sollen dort rund 4000 Verkäufer und 150 000 Käufer 1,2 Milliarden Dollar umgesetzt haben.

Zwar gab es seit den Frühzeiten des Internets immer wieder Orte, an denen Drogen im kleinen Kreis gehandelt wurden, doch keiner war wie dieser. Die Produktpalette deckte von Amphetamin bis Xanax diesmal wirklich jedes denkbare Rauschmittel ab. Der Zugang zum digitalen Drogenmarkt ist nicht einfach (siehe Anmerkung S. 111), es gilt technische Hürden zu überwinden, doch wer das geschafft hat und keinen Fehler begeht, braucht Strafverfolger kaum zu fürchten.

Design und Antwortzeiten erinnern vielerorts im versteckten Netz an das frühe World Wide Web. Das dunkle Netz ist ein Marktplatz für andernorts Verbotenes: von der freien Meinungsäußerung zensurgeplagter Aktivisten bis zum schwarzen Brett für Auftragsmörder. Beliebtestes Ausflugsziel sind die Drogenumschlagplätze, die seit dem Niedergang der Silk Road nach der Verhaftung ihres Gründers mit dem Pseudonym Dread Pirate Roberts im Oktober 2013 um Kunden buhlen.

Die Shops setzen nach dem Vorbild von Amazon und Ebay auf bewährte Funktionen. Der Verkäufer stellt sein Produkt mit ansprechendem Foto und aussagekräftiger Beschreibung ein; der Kunde wählt aus einem Katalog die gewünschte Produktklasse, stöbert im Angebot und vergleicht die Bewertungen vorheriger Besteller. Ist die Wahl getroffen, tritt er mit dem Händler verschlüsselt in Kontakt, überweist die geforderten Bitcoins und übermittelt die Anschrift, an die der Stoff geschickt werden soll. Den Rest erledigt die Post.

Zwar ist der Drogenmarkt im Internet gegenüber dem Straßenhandel (mit einem geschätzten Umsatz von 320 Milliarden Dollar pro Jahr weltweit) noch klein, aber bereits hart umkämpft. Schließlich leben die Betreiber gut von der Verkaufsprovision, die sie für jeden Deal erhalten, der auf ihrer Seite geschlossen wird. Laut FBI sollen beim damals 29-jährigen Marktführer Dread Pirate Roberts Bitcoins im Wert von 150 Millionen Dollar sichergestellt worden sein. Aufgrund der steigenden Konkurrenz haben sich Silk-Road-Nachfolger wie Alphabay oder Nucleus vom anarchischen Neunzigerjahre-Look verabschiedet und orientieren sich nun an der Optik des legalen Onlinehandels. Heute bestimmt die Verkaufspsychologie und nicht mehr die Gesinnung das Design.

Da Vertrauen auf anonymen Marktplätzen ein knappes Gut ist, reagieren die Kunden stärker auf die üblichen Onlinereize wie einprägsame Logos, erkennbare Marken, hochauflösende Produktfotos und Marktstandards wie Kundenprofil, Konto-Übersicht und ausführliche Angebotslisten. Je seriöser die Plattform daherkommt, desto schneller vertrauen ihr die Kunden.

Neues Personal

Ein mindestens ebenso strenger Wettbewerb herrscht unter den Verkäufern, deren Konkurrent stets nur wenige Millimeter entfernt lauert. Ob der Käufer LSD nun beim „KarmaLab“ oder bei „LoveIsTheKey“ bestellt, ist ihm schließlich ziemlich egal. Beim Erstkontakt zählen meist die Kundenbewertungen, die teilweise so auch auf Ebay stehen könnten: „Top-Verkäufer, seriöse Abwicklung, Blitz-Versand, gerne wieder, A+++“ – nur dass der zufriedene Besteller hier nicht die „Keramik-Figur Entenfamilie“ aus Freiburg im Breisgau, sondern 56 Gramm Cannabis der Sorte „Orange Bud“ aus Amsterdam erstanden hat.

Wer als Anbieter nicht mit Bewertungen punkten kann, der muss sich für die Akquise einiges einfallen lassen. Neue überschlagen sich daher mit kostenlosen Probepackungen, zweistelligen Rabatten und weltweitem Gratisversand. Doch auch ein treuer Kundenstamm will gepflegt werden, schließlich sind Käuferstimmen der einzige Nachweis für Seriosität. In der Anonymität des Darknets kann der Drogenhändler seinem Rivalen nicht einfach mal die Beine brechen – ihm bleibt nichts anderes, als nett zu sein. Anders als auf der Straße machen schlechte Manieren im Internet das Geschäft kaputt.

Der mittlerweile zu sieben Jahren Jugendstrafe verurteilte Shiny Flakes aus Leipzig war noch keine 20 Jahre alt, als er mit dem digitalen Drogenhandel 200 000 Euro Umsatz im Monat machte. Er unterhielt seinen eigenen Vertrieb, analysierte, wie lange sich seine Kunden für welches Produkt interessierten, und studierte zur eigenen Sicherheit veröffentlichte Akten verhafteter Konkurrenten. Treuen Abnehmern legte er Gummibärchen in die Sendung; verlorengegangene Ware schickte er auf eigene Rechnung nach.

Der neue Typus Onlinedealer besticht durch technisches Geschick und eine dem Gewerbe bislang fremde Kundenorientiertheit. Und er versteht sich aufs Wirtschaften. So nahm Shiny Flakes nach einem vierwöchigen Testlauf Cannabis wieder aus seinem Portfolio; die vergleichsweise geringe Marge sei den Aufwand nicht wert, erklärte er nach seiner Verhaftung im Interview mit dem Magazin »Vice«.

Viele derer, die heute über das Darknet Drogen verkaufen, könnten im rauen Straßenhandel nicht bestehen. Das wollen sie auch gar nicht. Sie sind gebildeter und friedlicher als der gemeine Pusher. Der Finne Douppikauppa ist seit 2013 Skandinaviens erfolgreichster Onlinedealer – ein 30-jähriger Akademiker, der nach eigenen Angaben einer gut bezahlten, legalen Arbeit nachgeht und im Erwachsenenalter das erste Mal Drogen genommen hat. Der Offlinehandel mit Drogen sei ihm viel zu unsicher und gefährlich, sagt er.

Begonnen habe er seine dunkle Karriere nach seinem ersten LSD-Trip und der ernüchternden Erkenntnis, wie schwer diese Substanz in Skandinavien zu erstehen sei. Also habe er 10 000 Euro zusammengekratzt, eine ordentliche Menge aus dem Ausland bestellt und sie für ein Vielfaches verkauft. Diesem Muster sei er treu geblieben.

Eine Auswertung der Händlerdatenbank der mittlerweile ebenfalls geschlossenen Silk Road 2 ergab, dass das Gros der Verkäufer zwischen 10 000 und 20 000 Dollar im Monat umsetzt. Ein paar wenige erlösen Millionen. Zwar verlegen auch erfahrene Dealer ihr Geschäft ins Internet, oft sind es aber Neulinge, die ihr eigenes Produkt verkaufen oder sich als Powerseller verdingen. Folgen sie den komplizierten Sicherheitsvorschriften der Gemeinde und lassen sich beim Gang zur Post nicht erwischen, können sie weitgehend unbehelligt handeln.

Anders als Mr. Nice, der in den Siebziger- und Achtzigerjahren tonnenweise Cannabis nach Großbritannien schmuggelte und dabei allerlei Abenteuer erlebte, haben die Neuen ein eher nüchternes Verkäuferdasein. Die Anbieterin Angelina aus den USA beschreibt ihren Alltag als den einer klassischen Kauffrau, die den größten Teil des Tages mit Großhändlern verhandelt. Zwar überstiege die Nachfrage das Angebot und die Margen lägen bei bis zu 1000 Prozent, doch ein betriebswirtschaftlicher Hintergrund sei dennoch ratsam. Wer schnell wachse, verliere auch schnell die laufenden Kosten für Sicherheit, Personal und Logistik aus den Augen, warnt Angelina.

In einem Interview mit dem Onlinemagazin „Mashable“ erklärt sie: „Wir sind weniger Drogendealer, als man denken könnte, sondern eher Internet-Einzelhändler. Es kommen Aufträge rein – wir verarbeiten, verpacken und versenden sie. Tagein, tagaus. Wir handeln Deals aus, recherchieren Versandmöglichkeiten und verwenden viel Zeit darauf, nervöse Erstbesteller zu beruhigen und Sendungen nachzuverfolgen.“

Sowohl auf der Silk Road 2 als auch beim Vorgänger Silk Road erreichten 95 Prozent der Händler die volle Kundenzufriedenheit von fünf Sternen. Die wichtigsten Kriterien dafür sind: Lieferzeit, Qualität, Menge und Kundendienst.

Neue Wege

Neben dem Verkaufspersonal hat sich auch die Szene professionalisiert. So durchforsteten schon zu Silk-Road-Zeiten Moderatoren rund um die Uhr das Angebot, entfernten Spam, beobachteten verdächtige Verkäufer und zogen Betrüger aus dem Verkehr. Die Ordnungshüter scheuten weder Testbestellungen noch Hintergrundrecherchen. Laut Angaben des Gründers Dread Pirate Roberts verdiente ein Moderator zwischen 1000 und 2000 Dollar pro Woche und musste seinen Urlaub fristgerecht beantragen.

Zu den Aufgaben zählte auch das Löschen verbotener Angebote. Entgegen der landläufigen Annahme sind Schwarzmärkte keinesfalls regellos. Auch die Handelsplätze des Darknets – fern jedweden staatlichen Eingriffs – haben klare Regeln definiert und eigene Verfolgungsinstanzen installiert. Jede Plattform folgt ihrem eigenen Kodex: Manche erlauben nur den Verkauf von Rauschmitteln, andere lassen Raubkopien zu, ein paar gestatten den Handel mit Waffen – Bilder misshandelter Kinder sind indes auf allen gängigen Marktplätzen strikt verboten.

Die Gemeinschaft hat eine Mission. Ein ehemaliger Moderator erklärte das Phänomen gegenüber dem britischen Journalisten Jamie Bartlett: „Silk Road ist zu einem Auffangbecken für all die Leute geworden, die der Auffassung sind, dass sich kein Staat in die Frage einmischen darf, welche Substanzen ich meinem Körper zuführe.“

Zwar sind die Märkte des Darknets störungsanfällig, doch die Reaktionen darauf sind kreativ. Als in den Anfangsjahren die ersten Betrüger begannen, Kunden zu prellen, entwickelten die Seitenbetreiber Escrow-Services – Treuhandkonten, auf denen das Geld für die Ware so lange geparkt wurde, bis deren Erhalt bestätigt wurde. Bekam der Kunde keine Lieferung, erhielt er sein Geld zurück.

Das ging so lange gut, bis die ersten Escrow-Anbieter sich an den geparkten Millionen bedienten, die ihnen Händler und Kunden anvertrauten. Daraufhin entwickelte sich das Multi-Signature-Verfahren, bei dem zu jeder Auszahlung (egal in welche Richtung) die Zustimmung mindestens zweier Vertragspartner nötig ist. Dahinter steckt eine ausgeklügelte Technik, die sich vom ursprünglichen System, Geld gegen Ware, weit entfernt hat.

Eine ebenso technisch anspruchsvolle Lösung sind Bitcoin-Tumbler, mit deren Hilfe sich Überweisungen verschleiern lassen. Dafür fließt das Geld nicht mehr direkt vom Kunden zum Verkäufer, sondern zusammen mit den Bitcoins vieler weiterer Kunden in einen großen Topf, in dem es erst „gemischt“ und dann anteilig an die Verkäufer jedes einzelnen Kunden ausgeschüttet wird. An die Stelle des Absenderkontos tritt so das anonyme Massenkonto des Bitcoin-Mischers. Eine weniger komplexe Entwicklung ist die Drogen-Suchmaschine Grams. Sie vergleicht marktplatzübergreifend Preise, zeigt die Verlässlichkeit der Händler und verkauft (wie das legale Vorbild Google) Premium-Suchvorschläge und Werbeplätze. Selbst das Logo erinnert an die sechs Buchstaben aus Mountain View.

Anwärter auf den nächsten großen Evolutionsschritt ist seit einiger Zeit OpenBazaar – ein dezentraler Marktplatz ohne Gebühren und ohne Verantwortlichen. Weil dort jeder Nutzer (im Peer-to-Peer-Netzwerk) selbst zu einem kleinen Teil des Marktes wird, gibt es keinen klassischen Betreiber mehr. Und wo kein Betreiber, da keine Festnahme, so die Hoffnung. Die Risikokapitalfonds Andreessen Horowitz und Union Square Ventures sowie der Investor William Mougayar haben bereits eine Million Dollar in das Open-Source-Projekt investiert.

Neben technischen und wirtschaftlichen Lösungen gibt es auch soziale, wie die des spanischen Hausarztes Fernando Caudevilla, der als Doctor X im Darknet Konsumenten berät und Labor-Analysen von Testbestellungen veröffentlicht. Sicher sei der Drogenmarkt im Darknet noch immer nicht, weil er nach wie vor ohne staatliche Qualitätskontrollen arbeite, sagt Caudevilla, doch immerhin sei er um einiges sicherer geworden.

Tausende von Konsumentenfragen über Dosierung, Inhalt und Wechselwirkungen hat er seit April 2013 an seinen Feierabenden kostenlos beantwortet. Er wolle damit zeigen, dass Drogenkonsumenten sehr wohl auf ihre Gesundheit achten können. Als Anerkennung seiner Arbeit überwies ihm Dread Pirate Roberts bis zu seiner Verhaftung wöchentlich 500 Dollar.

Neues Potenzial

Der Handel mit Rauschmitteln wird seit seinem Verbot von dubiosen Gestalten dominiert. Die kundenorientierten Drogen-Einkaufshäuser dicht unter der Oberfläche des Netzes scheinen das zu ändern: Sie bringen Käufer und Verkäufer zusammen, ohne sie der Gefahr physischer Gewalt auszusetzen.

Studien beschreiben den durchschnittlichen Kunden als männlichen Mittzwanziger mit höherer Bildung. Wichtigster Beweggrund für den Schritt ins Darknet seien die nie dagewesene Produktvielfalt und die persönliche Sicherheit. Er legt Wert auf Vertrauen, Schnelligkeit, diskrete Verpackung und die Qualität des Produktes. Hat er einmal die technischen Hürden genommen, verabschiedet er sich meist vollständig vom Straßenhandel.

Ein weiteres, gewichtiges Argument, das auch Suchtforscher überzeugt, ist die Qualität. Mussten die meisten Konsumenten bislang darauf vertrauen, dass ihr Dealer den Stoff nicht mit Rattengift oder alten Autoreifen streckt, haben die Kunden den Spieß umgedreht. Auf einmal setzen sie die Dealer unter Druck, indem sie gepanschten Stoff und unlauteres Geschäftsgebaren öffentlich anprangern können.

Mehr Transparenz und Konkurrenz haben die Qualität der angebotenen Produkte auf ein Niveau gehoben, das im Straßenhandel als utopisch gilt. Je sauberer der Stoff und je transparenter der Wirkungsgrad, desto sicherer wird der Gebrauch. Das ist, als wüsste man zum ersten Mal beim Kauf einer Flasche Wein, ob dieser 11 oder 91 Prozent Alkohol enthält. Zwar sind die Preise meist niedriger als auf der Straße, doch selbst wenn sie diese ausnahmsweise übersteigen, sind die Kunden bereit, für Transparenz und Qualität einen Aufschlag zu bezahlen.

Im altgedienten Drogenhandel ist diese Transparenz schlicht nicht möglich. Zwischen Erzeuger und Konsument geht die Ware meist durch viele Hände: Kartelle, Schmuggler, Großhändler, Kleinabnehmer, Straßendealer. Jeder erhebt einen Aufpreis oder streckt das Produkt. Und ganz am Ende der Kette steht der Konsument, der den Stoff oft abermals gestreckt im Freundeskreis verteilt.

Online verkaufen viele Produzenten selbst oder über einen kurzen Umweg an den Kunden. Das bedeutet weniger Möglichkeit und Notwendigkeit zum Verschnitt der Ware. Die Folgen sind niedrigere Preise, bessere Waren und – wie Studien zeigen – eine herausragende Kundenzufriedenheit.

Heino Stöver, Professor für sozialwissenschaftliche Suchtforschung in Frankfurt am Main, erkennt darin eine logische Reaktion auf die Prohibition. Er schätzt die neue Konsumentenbeteiligung, die dem Kunden Sicherheit und Orientierung wie bei einer Hotelbuchung gibt: „So traurig das klingt, angesichts der widersinnigen Prohibitionspolitik der vergangenen Jahrzehnte ist der neue, illegale Drogenmarkt im Internet eine klare Verbesserung der Situation.“

Der Gewinner dieser Entwicklung ist der Kunde, dicht gefolgt vom Verkäufer, dem sich ein weltweiter Markt eröffnet hat. Den Staat stellt das neue System vor große Herausforderungen. Obwohl keine Verschlüsselungstechnik vollkommenen Schutz gewähren kann, ist der Aufwand zum Knacken der Verbindung derart gestiegen, dass sich die Verfolgung einzelner Konsumenten und kleiner Dealer (wenn sie sich nicht durch eine Unachtsamkeit selbst enttarnen) zurzeit schlicht nicht lohnt. Außerdem ist der bewährte Ermittlungsweg vom Konsumenten über dessen Dealer bis zum Großhändler ausgehebelt, da der Onlinekunde nur noch ein Päckchen mit falschem Absender erhält. Der klassisch geschulte Ermittler stößt hier an die Grenze seiner Möglichkeiten.

Die größten Verlierer der Digitalisierung sind jene Mittelsmänner, die den Stoff bislang teuer und dreckig gemacht haben. Ohnehin ein wenig lukrativer Job: Im Schnitt verdient ein gemeiner Straßendealer in Großbritannien rund 22 500 Euro im Jahr.

Der australische Kriminologe James Martin vom Department of Security Studies and Criminology der Macquarie Universität in Sydney beschreibt Drogenmärkte als dezentrale, dynamische, flexible und damit sehr widerstandsfähige Netzwerke. Es sei höchst unwahrscheinlich, dass der bolivianische Kokabauer auf dem traditionellen Vertriebsweg jemals direkten Kontakt zur Londoner Konsumentin bekomme. Zwar folgt jede Droge einem anderen Herstellungs-, Konsum- und Verkaufsmuster, doch der persönliche Kontakt reiche meist nur ein bis zwei Ebenen weit. Wird ein Teilnehmer des Netzes geschnappt, übernehmen sofort andere dessen Geschäft, wodurch die Ware fast reibungslos umgeleitet wird.

Mit dem Darknet hat sich das Netz etlicher Knotenpunkte entledigt und ist effizienter geworden. Neben fallenden Preisen und steigender Qualität ist es damit aber auch anfälliger geworden. Jedes Mal, wenn ein Marktplatz verschwindet, bricht das System kurz zusammen, bis sich Alternativmärkte etabliert haben. Dieser Vorgang hat sich mittlerweile aber schon so oft wiederholt, dass es stets mehrere zeitgleich aktive Märkte gibt, die im Zweifelsfall die Geschäfte des anderen in kürzester Zeit übernehmen. Professionelle Verkäufer unterhalten heute auf allen großen Plattformen Dependancen und bieten ihre Waren an vielen Orten gleichzeitig feil. Statt einer einzigen Silk Road operieren heute Dutzende; das Netz hat sich zulasten der Übersichtlichkeit und zugunsten der Stabilität breiter aufgestellt.

Ihre Ware müssen sie in einigen Fällen (etwa bei Kokain oder Heroin) aber immer noch von mörderischen Organisationen beziehen. Können die neuen Märkte überhaupt Gutes im Schlechten bewirken? Dass der klassische Krieg gegen Drogen gescheitert ist, darin sind sich internationale Forscher weitgehend einig. Sie sagen nicht, Drogen seien eine gute Sache – wohl aber, dass ihr Verbot das Problem zur Katastrophe mache. Rauschmittel sind heute einfacher verfügbar, billiger, potenter und stärker nachgefragt denn je; die Verfolgung der Konsumenten kostet Unsummen und schadet meist mehr, als sie nutzt. Das Frankfurter Institut für Suchtforschung schätzt den Anteil der Konsumentendelikte in Deutschland auf 75 Prozent – also rund 200 000 Personen, die hierzulande jedes Jahr beim privaten Drogenkauf erwischt und polizeilich verfolgt werden, deren Fall im Nachhinein aber meist aufgrund der geringen Stoffmenge vor Gericht eingestellt wird.

Eine Studie des European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction kommt zu dem Schluss, dass Märkte wie Silk Road zu einem Paradigmenwechsel geführt haben. Zwar sei der Onlinehandel bislang im Vergleich zum Straßenverkauf noch unbedeutend, doch dies könne sich bald ändern.

Für den Kriminologen James Martin zeigen die Märkte des Darknets eine der vielversprechendsten Möglichkeiten, einen Großteil der Gewalt illegaler Drogenmärkte zu eliminieren. Im Fachjournal »Criminology & Criminal Justice« schreibt er: „Staatliche Behörden sollten diese größeren gesellschaftlichen Vorzüge bei ihrem Umgang mit Kryptomärkten im Augen behalten. Diese Märkte haben das Potenzial, eine riesige globale Industrie mit erschreckenden Gewalt- und Inhaftierungszahlen grundlegend zu verändern.“

︎