Foto: Martin Stollberg

Lamm fromm


Bei deutschen Muslimen steigt der Fleischkonsum. Daher werden mehr Tiere nach den Regeln des Korans geschlachtet.

Stuttgarter Zeitung - November 2010
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Gärtringen - Süleyman Karatepe hat das Schlachten von seinem Vater in der Türkei gelernt. Seit 1993 arbeitet er in Deutschland, seit 15 Jahren im Gärtringer Schlachthof. Aufrecht, hager und etwas verloren steht er vor einem leeren Fließband und wartet auf die Lämmer, denen er die Halsschlagader durchschneiden soll. Noch leuchtet sein blütenweißer Kittel zwischen den verschmierten Wachsschürzen seiner Kollegen. In seiner Rechten hält er ein Messer mit einem orangefarbenen Plastikgriff.

Karatepe, 46, gehört nicht zur Stammbelegschaft des schwäbischen Schlachthofs. Er arbeitet für die Firma Murat Lamm, die in Gärtringen und Horb Halal-Fleisch verkauft und Dönerläden beliefert. Als "halal" bezeichnen Muslime alle Dinge und Taten, die nach islamischem Recht erlaubt sind.

Schweinefleisch, Blut und Aas sind zum Verzehr nicht erlaubt. Auch auf fleischfressende Tiere mit Fangzähnen, Raubvögel, giftige Tiere, Schädlinge und Fische ohne Schuppen verzichten Muslime. Damit Fleisch halal ist, muss der Schlachtraum frei von Schweineblut und Alkohol sein. Der Schlachter wendet die Tiere vor dem Schnitt in Richtung Mekka – so will es der Koran. Gleichzeitig wird "bismillah" gerufen – grob übersetzt: Gott, ich rufe dich an! "Einmal ,bismillah‘ vor jedem Tier", sagt Mevlüt Kabalar, der Inhaber von Murat Lamm. Süleyman Karatepe, der schlachtende Arm Kabalars, nimmt das nicht so genau. "Einmal ,bismillah‘ vor der gesamtem Schlachtung reicht", sagt er und beginnt sein Tagewerk im Gärtringer Schlachthof.

Ein kräftiger Mann mit Schnurrbart und Goldkette bugsiert das erste Tier in einen Metallkäfig und greift zur Elektrozange. Das Lamm schnuppert an dem Gerät, das aussieht wie ein übergroßes Glätteisen, verfolgt jede seiner Bewegungen, bis es kurz zu Boden schaut. Der Bärtige drückt dem Lamm die Stromzange fest an die Schläfen. Das Tier zittert kurz, wird steif, lehnt regungslos an der Wand. Kein Schrei. Es riecht nach verbrannten Haaren. Aus dem geschlossenen Kiefer drückt etwas Schaum. Auf der Anzeige neben dem Käfig steht: "Automatik: Kopf – Gerät bereit."

Der Koran verlangt, dass die Tiere vor dem Schlachten nicht betäubt werden. In Deutschland ist das verboten. Der Kompromiss, den alle Schiiten und die allermeisten Sunniten daher akzeptieren, ist die Betäubung des Tieres durch einen Stromstoß. Das Tier empfindet anschließend keine Schmerzen mehr, sagen deutsche Veterinäre. Das Tier lebe noch, sagen muslimische Geistliche. Legal und halal.

Auch deutsche Schlachter betäuben mit der Elektrozange. Den Unterschied macht im Gärtringer Schlachthof einzig der Glaube und das Ritual des muslimischen Schlachters. Mit einem Ruck öffnet der Schnurrbärtige den kleinen Käfig, und das Lamm kippt seitlich auf das Fließband vor Süleyman Karatepe. Die steifen Beine des Tieres zeigen in Richtung der Fleischerhaken an der Decke, an denen es in wenigen Minuten abtropfen wird. Karatepe dreht das fünf Monate alte Lamm auf den Rücken, überstreckt das Genick, setzt das Messer mit dem orangefarbenen Griff an und zieht es dem Tier durch die Wolle. Aus der offenen Kehle quillt ein dicker Strom dunklen Blutes über eine Rinne in den Abguss.

Da Muslimen jedes Tierblut als unrein gilt, muss das Vieh beim Schnitt durch die Hauptschlagader noch leben. Nur wenn sein Herz noch schlägt, verlässt ausreichend Blut den Körper, sagen sie. Karatepe wischt das Messer am Bauch des Lammes ab und beugt sich über das nun wieder zuckende und tretende Geschöpf, als wolle er es trösten. "Reine Reflexe", sagt Natalia Quindt, die Tierärztin des Schlachthofs. "Nach der Betäubung empfinden die Tiere keine Schmerzen mehr." Trotzdem zuckten sie manchmal noch bis zu einer Stunde nach dem Schlachten.

Natalia Quindt entnimmt jedem Tier eine Probe und untersucht es auf Muskelparasiten. Sie trägt einen weißen Schutzhelm, auf ihrer Nase ist ein kleiner, dunkler Blutfleck. Von ihrem Labor aus hat sie einen direkten Blick auf Innereien: Leber, Herz, Zwerchfell, Zunge – am Stück. Dutzende solcher Geschlinge hängen vor ihrem Fenster, ordentlich in einer Reihe. Süleyman Karatepe wäscht sich die Hände und schärft sein Messer. Das erste Lamm hat aufgehört zu zucken. Neben ihm liegen bereits vier Artgenossen. Das nächste Lamm lugt aus dem Käfig. Karatepe drückt es sanft zurück in die Box. Das Tier soll nichts mitbekommen von seinem bevorstehenden Tod. Der Koran sieht vor, dem Tier so viel Leid wie möglich zu ersparen. So muss der Schlachter sein Messer vor ihm verstecken, es soll arglos sein. Weiter soll er das Tier beruhigen, es im Arm halten, ihm zu trinken geben, um dann – ohne Vorankündigung – mit einem kräftigen Schnitt die Kehle zu durchtrennen.

Die Realität sieht anders aus. Auch bei deutschen Muslimen steigt der Fleischkonsum immer weiter an. Schlachten wie zu Zeiten des Propheten kommt da nicht mehr infrage. Kein Großbetrieb leistet sich den Luxus, jedes Lamm einzeln zu beruhigen. Die Folge ist ein ständiger Spagat zwischen dem Gesetz des Marktes und dem des Islams. Eine einheitliche Meinung über das ordnungsgemäße Schlachten gibt es unter Muslimen nicht. Zahlreiche Unternehmen bieten Halal-Zertifikate an, jedes hat sein eigenes Logo und eigene Standards. So zertifiziert die Bremer Firma M-haditec prinzipiell auch industrielle Schlachtanlagen – wenn auch selten. Das Zertifikat kostet im Jahr zwischen 2000 und 3000 Euro.

Halal Control aus Rüsselsheim hingegen lehnt die industrielle Herstellung von Fleisch kategorisch ab. "In der Industrie passieren immer Fehler", sagt der Geschäftsführer Mahmoud Tatari, "das ist mit dem Koran nicht vereinbar." Die Industrie handle nach rein ökonomischen Trieben und suche notfalls so lange, bis sie ein Institut gefunden hat, das ihre Anlage zertifiziert. Doch wie der Verzehr von Halal-Fleisch ist auch die Schlachtung nach dem Vorbild des Propheten Mohammed ein gottesdienstlicher Akt. Eine Verwässerung der Halal-Normen kommt für Mahmoud Tatari daher nicht infrage. Auch der Fleischimport schaffe keine Abhilfe. "Ich kenne vielleicht eine Handvoll Betriebe weltweit, die unsere Standards auch wirklich einhalten", sagt Tatari, "die anderen gehen Kompromisse mit der Industrie ein."

Wenn ein Muslim gutgläubig Halal-Fleisch kauft, dann ist es nicht sein Vergehen, wenn er betrogen wird. "Unsere Kunden vertrauen uns", sagt Mevlüt Kabalar von Murat Lamm. Über die Größe seines Betriebes möchte der Unternehmer nicht sprechen: "Nur Gott ist groß", sagt er und zündet sich eine Zigarette an. Gegen industrielle Schlachtung habe er nichts, "aber bei Großvieh lohnt sich das nicht". Geflügel importiert er. Mit Halal-Zertifikat, versteht sich.

Süleyman Karatepe hat das letzte der 41 Lämmer für heute geschlachtet. Nummer 39 strampelt mit offener Kehle im Liegen wie ein träumender Hund. Beim Schlachten hat es nach Südwesten geschaut. Nicht Richtung Mekka, eher Richtung Mexiko. Ein tätowierter Arbeiter schneidet den Lämmern die Hoden ab und wirft sie in eine rote Plastikwanne. "Schmeckt wie Hirn", sagt Süleyman Karatepe, "am besten mit einem Glas Raki."

Karatepe hat seinen Dienst im Gärtringer Schlachthof für heute getan. Von der Decke tröpfelt das Blut der Lämmer auf seine weiße Mütze. Er verlässt den Schlachtraum, rechts hängt das Geschlinge, links steht die Tierärztin hinter ihrem Laborfenster. Auf dem Weg nach draußen grüßt er eine Arbeiterin mit blutigem Hemd, die einen Joghurt isst und in einem Magazin blättert. Er überquert den Hof. Sein Tag bei Murat Lamm fängt jetzt erst richtig an: "Noch acht Stunden Döner machen", sagt er. Über der A 81 graut der Morgen. In der Einfahrt wartet ein Rind auf einem Hänger im Nieselregen. In wenigen Stunden wird es zu einem Lebensmittel verarbeitet werden. Nicht halal, sondern von einem deutschen Schlachter. Dem Rind ist das egal.


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