
Wege in die Versenkung
Wer allein arbeitet, genießt viele Freiheiten. Und muss sich selbst eine Struktur schaffen, um sich nicht zu verlieren. Drei Porträts von Freischaffenden und ihren Techniken.
brand eins - April 2014
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Hintergrundrauschen
Im Schwarzwald wohnt ein Dichter, der sitzt oft im Café am Markt. Wenn er sich mit geneigtem Kopf und spitzem Bleistift seinen Notizen widmet, wagen die Leute nicht, ihn anzusprechen. Sie sagen, er schreibe jeden Tag nur ein Wort, und man wolle ihn dabei nicht stören.
Für den andalusisch-alemannischen Lyriker José Francisco Agüera Oliver ist das Dichten eine ewige Übung. „Ich kann den Dingen unendlich nahekommen, aber ich kann niemals Teil von ihnen sein“, sagt er und schiebt zum Denken seine schmale Brille auf die Stirn.
Dichten ist für den prämierten Suhrkamp-Autor und ehemaligen Gastprofessor des Massachusetts Institute of Technology kein Job, den er zum Feierabend hinter sich lassen könnte. Inspiration lauert überall. Wenn ihm eine Idee kommt, bittet er seinen Gesprächspartner um einen Moment der Ruhe und notiert sich den Gedanken mit ausladenden Schwüngen in seinem schwarzen Büchlein, das er ständig bei sich trägt. Später überträgt er die Stichworte auf seinen Computer, um sie zu erweitern.
Man könnte meinen, ein Dichter, der im Schwarzwald lebt, schätze die Abgeschiedenheit. Doch Oliver, der im beschaulichen Hausach eine ausgediente Hosenträgerfabrik bewohnt, braucht Trubel, um sich zu vertiefen. Sein liebster Arbeitsplatz ist das Café, mit seinem Alltagsgemurmel und dem Geruch nach frischem Brot. Da sitzt der Schriftsteller mit dem bleistiftdünnen Schnurrbart inmitten des Rauschens und schreibt zum Beispiel dies:
dichter ort III
dem ersten regentropfen
fiel das letzte wort zu
& nackt in meiner hand
war schieres sagen
„Konzentration kommt durch Arbeit“, sagt er und meint den Zustand, in dem kein Nachbar ihn mehr anzusprechen wagt und der Espresso vor ihm unberührt erkaltet. Die Gespräche ringsherum werden dann zum schützenden Hintergrundrauschen.
Auf das Notat folgt die Verdichtung und mit ihr die Suche nach der endgültigen Form. Da dieser Schritt in der Regel länger dauert als das Erkalten eines Espressos, zieht sich Oliver in sein Arbeitszimmer zurück: ein kleiner, schattiger Raum im Erdgeschoss. Die Rollläden sind geschlossen, und ringsum liegen Bücher. „Mein Arbeitszimmer ist ein dunkler Wald kurz vor der Morgendämmerung“, sagt er. „Zum Schreiben brauche ich keine Weite, kein Licht – es passiert alles in mir.“
Nur still darf es nicht sein. Wenn er keine Stimmen hört, kann er nicht schreiben. Schon als Kind habe er so lange geschrien, bis die Mutter einen Radiosender gefunden hatte, in dem ein Politiker sprach. Heute übernimmt der Fernseher diese Funktion und plappert ständig im Hintergrund bei gedämpfter Lautstärke vor sich hin. Das Programm ist egal, nur Musik darf nicht gespielt werden, denn die droht ihm ihren Rhythmus zu diktieren – und auf den kommt es an. „Ein einziges Komma kann alles entscheiden“, sagt Oliver und hebt die rechte Hand mit den vielen Ringen. Ihm ist sowohl die andalusische Gelassenheit seiner Eltern, die in den Sechzigerjahren vor der Armut aus Francos Spanien in den Schwarzwald flohen, als auch der Arbeitseifer seiner badischen Nachbarn anzumerken. Kaum zitiert er den Vater, den ehemaligen Arbeiter der örtlichen Strohhutfabrik, dem zufolge die Dinge nur bedingt beeinflussbar seien, fügt er hinzu, dass er nicht an Genies, sondern nur an harte Arbeit glaube.
Zu entscheiden, wann ein Werk vollendet ist, sei die schwerste Übung, sagt er. Er liest sich die Verse laut vor: Wenn er sich damit selbst überzeugen kann, ist der Zeitpunkt der Veröffentlichung gekommen. Nun gehört der Text nicht mehr ihm, sondern wird zum Angebot an die Leser.
„Es gibt keine endgültige oder definitive Version eines Gedichts“, hat der Dichter Octavio Paz gesagt. Oliver greift dessen Gedanken auf: „Vielleicht ist jedes Gedicht der Entwurf eines Gedichts, das wir niemals schreiben werden“ – und fängt wieder von vorn an.
Regeln, in Stein gemeißelt
Wenn Oliver Meffert seinem Kunden einen Totenkopf auf den Oberarm tätowiert, darf er nicht niesen. Die Nadeln, mit denen er zweihundertmal in der Sekunde zusticht, messen nicht einmal einen halben Millimeter im Durchmesser. Ein Zucken – und der Totenkopf bekäme eine Beule. Und mit ihm womöglich auch der Tätowierer.
„Ich arbeite im Akupunkturbereich“, sagt Meffert, „da darf man keinen Tatterer haben.“ Wenn er spürt, dass er oder der Kunde unruhig wird, macht er eine Pause, bis er wieder „ins Bild kommt“. Wenn er konzentriert ist, hängt er über dem wunden Stück Haut, die Brille nur eine Handbreit von der Nadel entfernt, und vergisst alles.
„Nach sechs Stunden läuft der Kunde dann mit ’nem Lächeln auf dem Gesicht raus, und ich bin völlig fertig“, sagt Meffert, dem ein grün-blaues Tattoo von der Schulter über den Arm auf die Hand kriecht, das man mit Attributen wie organisch, fraktal, biomechanoid, insektoid nur umschreiben kann. Um den fokussierten Zustand zu erreichen, hat er ein strenges Reglement erdacht. Es gilt: Erstkontakt nur per E-Mail. Besprechung persönlich im Hamburger Studio mit Anzahlung. Vor dem Tätowieren malt Meffert dem Interessenten den Entwurf mit einem Filzstift auf die Haut und schickt ihn damit nach Hause. Wer am nächsten Tag noch zu seinem Entschluss steht, darf sich stechen lassen.
Die Vorbereitung seiner Instrumente trifft er mit der konzentrierten Ruhe eines Chirurgen. Das Abkleben der Arbeitsfläche, das Sortieren der Nadeln, das Fixieren des Bechers mit der Farbe, alles folgt einem festen Muster. Dann holt er eine Schatulle aus dunklem Holz aus dem Schrank, die er mit beiden Händen und ernster Miene öffnet. Er entnimmt ihr die Tätowiermaschine, steckt die Stromkabel ein und setzt an zum ersten Stich. Gesprochen wird selten, „nicht jeder Kunde hat was Interessantes zu sagen“, sagt Meffert diplomatisch. Meist konzentriert sich jeder auf das Seine: der eine auf die Kunst, der andere auf den Schmerz.
Mit der immergleichen Prozedur baut Meffert die Angst vor der Endgültigkeit seines Tuns ab. Dieser Druck ist nicht neu für ihn: In seinem vorigen Beruf hat er als Steinbildhauer Wasserspeier für das gotische Kloster von Batalha aus dem Kalkstein gehauen. Schlug er zu fest, war die Arbeit von Wochen zerstört.
Neu ist, seit er das Presslufteisen gegen die Tätowiermaschine getauscht hat, dass sich das Objekt, an dem er arbeitet, auch wehren kann.
In der Männerhöhle
Wenn es gut läuft für René Walter, dann sitzt er drei Tage am Stück vor seinem Computer, unterbrochen nur vom Pizzaboten und ein paar Stunden Schlaf. Er schwimmt dann wie ein Wal mit offenem Maul durch seinen „River of News“ und durchkämmt das Internet nach den abseitigsten Leckerbissen für seinen Blog.Bei jeder Meldung fragt er sich: „Ist das what-the-fuck genug?“ Das kann ein Video sein, das Delfine dabei zeigt, wie sie auf Kugelfischen kauen, um high zu werden, oder die Nachricht, dass Forscher ein seltenes Akne-Bakterium nach Frank Zappa benannt haben. Neu muss es sein und wahr und irgendwie auch abgedreht – danach fischt Walter von morgens, wenn er sich vom Sofa an den Schreibtisch setzt, bis abends, wenn er sich vom Schreibtisch wieder aufs Sofa setzt.
Was andere Menschen in den Wahnsinn triebe, ist für den gelernten Schriftsetzer ein Traumjob. „Schon in den Neunzigerjahren wollte ich als Internet-Jockey über den Daten-Highway galoppieren“, sagt der Freund von Anglizismen, der als Jugendlicher ein Techno-Fanmagazin im hessischen Wolfskehlen für die lokale Dorfszene herausgab. Auflage: 100 Stück.
Dass sein Blog „Nerdcore“ heute 800 000 Besuche im Monat zählt und ihm ein angenehmes Leben finanziert, hätte er sich damals nicht träumen lassen. Doch die Werbekunden haben erkannt, dass die krude Mischung irrer Meldungen ein interessantes Publikum anzieht. Walters Gefolgschaft ist intelligent, abgedreht und solvent.
Um für seine Leser interessant zu bleiben, behält der Wahl-Berliner rund tausend Internetseiten im Blick. Im Sekundentakt prasseln Nachrichten auf ihn ein; alle zwei Minuten kontrolliert er, ob sich bei Twitter oder Facebook gerade ein Thema heißläuft. Dann kapselt er sich ab. „Wenn ich hardcore am Bloggen bin, habe ich einen völligen Tunnelblick“, sagt er.
Um in diesen Zustand zu gelangen, braucht er sein Arbeitszimmer: eine Höhle, die der 40-Jährige „Man Cave“ nennt; in der sich Comics und Spielzeuge türmen, der Aschenbecher neben dem Mischpult überquillt und Jalousien vor dem Tageslicht schützen. „Ich bin sicher zu zehn Prozent Autist“, sagt er. Wenn er spürt, dass seine Konzentration nachlässt, hört er auf, Kaffee zu trinken.
Um in dem Informationsstrom, der ihn umtost, nicht zu ertrinken, geht er strukturiert vor. Seine tausend Internetseiten hat er in beschrifteten Ordnern nach Themen und Prioritäten sortiert. Er fängt beim wichtigsten an und liest nur die Überschriften. Was verrückt und dennoch glaubhaft klingt, bekommt ein Sternchen. Ist er beim letzten Ordner angekommen, schaut er sich die markierten Meldungen genauer an. Hat er vier Fenster geöffnet, arbeitet er sie ab, bevor er ein neues aufmacht. So geht das den ganzen Tag. „Ich bin ein Getting-things-done-Typ und folge einem klaren Schedule.“
Die größte Herausforderung für René Walter ist es, abzuschalten. Als er den Blog im Jahr 2005 gründete, bereitete ihm der Gedanke, eine Meldung zu verpassen, noch schlaflose Nächte. Heute ist er ruhiger geworden und kann auch mal mit seiner Freundin ins Kino gehen, ohne auf das Smartphone zu schielen. „Gegen zwölf Uhr“, so seine Erfahrung, „schläft das Internet ja irgendwann ein.“
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