Aus reiner Thorheit
Im dänischen Ribe leben Menschen freiwillig im Mittelalter. Der Autor hat sich einer Sippe angeschlossen.
Die Zeit - August 2013
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Wir schreiben das Jahr 900 nach Christus. Dänemark ist von Wikingern bevölkert. Die Sonne steht wie ein glühender Schild am Himmel und versengt das Gras auf den Weiden. Selbst im Schatten würden die Menschen mehr als 30 Grad messen, wenn sie es schon könnten.
An Arbeit ist nicht zu denken. Der Glasperlenmacher hat seine Glut erkalten lassen; die Weberin lässt das Teppichschiffchen ruhen. Nur dem Schmied scheint die Hitze nichts anzuhaben. In seiner dunklen Lehmhütte formt er beharrlich das Eisen. Seine Viertelschläge geben der Stille einen monotonen Rhythmus. Auf seiner Brust, zwischen den schwarzen Haaren, die wie Ruß an seiner Haut kleben, hängt der Hammer Thors. Während dem Schmied der Schweiß von den Brauen auf die Lederschürze tropft, sieht er versunken aus. Beinahe entspannt.
Das sollte er auch – schließlich hat er Urlaub. Zusammen mit hundert anderen Männern, Frauen und Kindern verbringt er seine Sommerferien im Mittelalter. Um Wikinger zu spielen. Die Zeitreise hat ihn nach Ribe geführt, eine Autostunde von der deutschen Grenze entfernt, ins größte Wikingercenter des Landes. Auf vier Quadratkilometern stellt das Museumsdorf den Alltag der mittelalterlichen Landbevölkerung nach. Mit Feldern, Koppeln, Marktplatz und Wohnsiedlung. Neben den Angestellten sind es vor allem die Freiwilligen, die den Ort zum Leben erwecken.
Wer eine Tracht besitzt und den Urlaub ohne Handy, Strom und Plastik verbringen möchte, kann sich in Ribe als Wikinger auf Zeit bewerben. Ob er im Dorf aufgenommen wird, hängt von seinem Ruf in der Szene ab. Das Museum lebt von der Integrität seiner Bewohner. Die Hobbywikinger müssen nicht nur echt aussehen, sie müssen sich auch so verhalten – und den Fragen der Besucher standhalten. Dafür dürfen sie abends bleiben, wenn die Gäste das Gelände verlassen und das Museum seine Tore schließt.
Was sind das für Leute, die freiwillig im Mittelalter leben und ihre weiche Kleidung gegen den Komfort eines Kartoffelsacks tauschen? Und was treiben sie nach Museumsschluss? Um das zu ergründen, muss ich ihresgleichen werden. Weil ich keine Tracht besitze, führt mich Bjarne, Gründer und Leiter des Zentrums, in die Garderobe der Angestellten: ein Dachboden voller Holzknopf-Lodenmäntel, geflochtener Hanfgürtel und grober Lederschuhe.
Ich wähle eine Leinenhose, die so schmutzig ist, dass sie als Ausgrabungsfund durchgehen könnte. Das Baumwollhemd ist sauber, fühlt sich aber an, als wäre es aus Brennnesseln gewebt. Bjarne ahnt mein Unbehagen: „Das kratzt ein bisschen, ja? Aber da drunter darfst du kein T-Shirt anziehen.“ Menschen mit großen Füßen gab es im Mittelalter offensichtlich nicht, also mache ich mich barfuß auf den Weg zu der Sippe, unter deren Obhut mich Bjarne für die nächsten Tage gestellt hat. „Eine tolle Gruppe“, sagt er und zwinkert mir zu, ohne sich weiter zu erklären.
Wir verlassen das Haupthaus. Eine geschwungene Holzbrücke quert ein Bächlein, an dessen Böschung Rainfarn und Blutweiderich blühen. Hinter dem Graben beginnt das Mittelalter. Über die Trampelpfade und Holzstege des Marktplatzes laufen wir vorbei an den weißen Zelten der Weberinnen, Färber und Drechsler, bis Bjarne vor einer dunklen Lehmhütte stehen bleibt und mir Jens, den Schmied und Kopf meiner zukünftigen Sippe Vargr, vorstellt.
Der Schmied bricht mir bei der Begrüßung mit seiner rußigen Pranke fast die Hand und zeigt auf meine Sonnenbrille: „Kannst du auch ohne die hören?“ Es ist ihm ernst: Sonnenbrillen sind nicht authentisch, und was nicht authentisch ist, hat im Center nichts zu suchen. Die Regeln für Wikinger sind einfach und streng – zumindest während der Öffnungszeiten. Ich nehme die Brille ab und stolpere mit zusammengekniffenen Augen zum Lagerplatz. Die elf Männer, drei Frauen und zwei Kinder meiner Gruppe schlafen in einem reetgedeckten Haus am Rande des Dorfes. Sie nennen es ihr „dänisches Bettenlager“. Eigentlich ist die Sippe ein Freundeskreis aus der Region Koblenz, Menschen, die zum Teil schon seit 20 Jahren ihren Urlaub im Mittelalter verbringen. Als Neuling soll ich in einem Zelt neben ihnen schlafen. Das freut mich, denn ein Blick in die überwiegend bärtige Runde lässt vermuten, dass auch Schnarchen authentisch und damit erlaubt ist.
Mein Zelt besteht aus drei Holzstangen, einem Tuch und einer Menge armlanger Eisennägel zum Abspannen. Sofort ist Bernhard zur Stelle, dessen verrauchtes Lachen knarzt wie ein poröser Blasebalg. Noch während er mir den Aufbau erklärt, packen acht Wikingerarme mit an. Kurz darauf stehe ich im Inneren meines zwei auf drei Meter großen Zeltes. Gastfreundschaft, erklärt Bernhard, ist oberstes Gebot der Sippe. Auf einem Holzgestänge vor dem Haus hängen seine Fuchspelze in der Sonne. Die Felle stammen aus einem Wald bei Koblenz, wo Bernhard als Förster arbeitet, verkaufen will er sie als Wikingerjäger. In Ribe, sagt der 53-Jährige, vermisse er nichts. Die Sonne scheint ihm auf die Strickmütze, er hat seine Freunde um sich, und abends trinkt er ein paar Bier.
Neben den toten Füchsen sitzt Christian auf einer eisenbeschlagenen Holztruhe, ein mächtiger Kerl mit freiem Oberkörper und grauem Bart, in den er Silberschmuck geflochten hat. Geduldig hilft er seinem zehnjährigen Sohn dabei, Thors Hammer aus einem Knochen zu schnitzen. Als ich bemerke, dass sein Sonnenbrand den Rand seiner Verkleidung nachzeichnet, schaut er mich ernst an. „Das ist keine Verkleidung, sondern eine Gewandung“, sagt er und legt den Knochen auf den Tisch. „Oder verkleidet sich der Manager etwa, wenn er seinen Anzug anzieht?“ Er wartet keine Antwort ab: „Was wir hier machen, ist echtes Reenactment – alles andere ist Museumspädagogik.“ Ich möchte Christian, der früher Vollkontakt-Karate gekämpft hat, ungern widersprechen. In seiner Hand hält er ein scharfes Messer mit dunkler Klinge, an seinem Gürtel hängt ein Dolch.
Auf einem Kuhfell zu seinen Füßen hockt Steffen, der Bogenbauer. Mit knappen Axthieben schält er aus einem mannshohen Stück Holz einen Bogen heraus. Wenn kein Tourist in Sicht ist, setzt er flink seine randlose Lesebrille auf, um die Maserung zu studieren. Steffen ist Dachdecker. Zum Bogenbauen geht er ins Mittelalter. Steffen mustert meine staubigen Füße und sagt: „Jetzt bist du nicht mehr der Besucher im Zoo – jetzt bist du der Affe im Käfig.“
Das stimmt zwar, aber begafft fühle ich mich nicht. Was daran liegen mag, dass ich noch zu sehr mit meiner kratzenden „Gewandung“ hadere. Auf dem Platz sind die Wikinger in der Überzahl. Wer das Dorf in neuzeitlicher Kleidung betritt, hat das Gefühl, Gast zu sein, und verhält sich automatisch zurückhaltend. Außer ein paar versteckten Feuerlöschern im hohen Gras findet sich kein Hinweis auf die Moderne. Die Duschen und Toiletten sind in einem unscheinbaren Reethäuschen versteckt.
Instand gehalten wird das Museum von einer Produktionsschule, in der 30 Jugendliche ausgebildet werden, die mit der Arbeitswelt nicht zurechtkommen. Sie sind ebenso Teil des mittelalterlichen Alltags wie die Hobbywikinger – nur dass die Mitarbeiter abends nach Hause fahren. Den Besuchern fällt der Unterschied nicht auf. Sie sind damit beschäftigt, Fragen zu stellen. Auf dem Marktplatz treffen Touristen aus aller Welt auf Wikinger aus halb Europa.
Jens, der Schmied mit den Pranken eines Eisenbiegers, schätzt diese Schwätzchen. Selten kann er so ausgiebig über seine Leidenschaft referieren, nirgends hängt man so gebannt an seinen Lippen wie hier. Wer Jens das richtige Stichwort gibt, kommt in den Genuss einer druckreifen Stegreifvorlesung zur „letzten großen Expansionswelle der germanischen Völkerwanderung“. Mit Quellenangaben. Die meisten Wikinger in Ribe haben sich durch Berge staubtrockener Geschichtsliteratur gelesen.
Mein Wissensdurst ist nach ein paar Stunden vorerst gesättigt. Ich schlendere durch die Roggen- und Zwergweizenfelder neben dem Marktplatz, vorbei an Lüneburger Heidschnucken und dänischen Landhühnern, zu einer Koppel mit Islandpferden. Dahinter liegt, versteckt und fern, die Neuzeit: der Besucherparkplatz. Während sich die letzten Gäste verabschieden und in ihren klimatisierten Autos nach Hause fahren, bleibe ich im Mittelalter zurück und trotte zum Lagerplatz. Die Frauen der Gruppe schneiden Kräuter für das Abendessen, während die Männer im Kreise stehen und sich in Fachgesprächen über authentische Stoffe, passende Saumabschlüsse, Ziernähte und Borten ergehen. Ein Bundeswehrarzt präsentiert die bunten Glasperlen, die er heute geschmolzen hat, ein Informatiker reicht seine selbst genähte Laptoptasche mit Wikingermotiven herum.
Im Inneren des Sippen-Lehmbaus, der in der Abendsonne leuchtet wie die Esse des Schmieds, ist es angenehm kühl. Trotzdem fühlt sich mein Kopf an, als hätte ihn Thor persönlich mit seinem Hammer massiert. Den ganzen Tag habe ich mit zusammengekniffenen Augen in der Sonne verbracht und darüber das Wassertrinken vergessen. Das rächt sich jetzt. Ich beobachte Christian dabei, wie er Bier und Kirschsaft in einem Tonkrug mischt – in Anlehnung an das flämische Kriek, das traditionell aus Sauerkirschen gebraut wird. Christian reicht mir den Krug, aber ich lehne dankend ab und verabschiede mich ins Zelt.
Am nächsten Morgen kocht beim Aufstehen auf dem Feuer bereits das Wasser für den „Kaffee“, den sie hier Bohnensuppe nennen. Meine Kopfschmerzen sind weg. Ich beschließe, dem Mittelalter noch eine Chance zu geben, und bitte um eine Aufgabe. Die Kinder mustern mich und raten zum Stöckchenschnitzen. Dabei könne wenig passieren. Ich schaue sie böse an, sage aber nichts, weil neben ihnen Christian mit den Messern sitzt. Stattdessen schlage ich vor, einen Löffel zu schnitzen, und setze mich in den Kreis der Männer, deren Körper geformt wurden von Bier, Fleisch und harter Arbeit. Frauen kommen selten zu den Lagerfahrten von Vargr. Die meisten Männer der Sippe verteilen ihren Jahresurlaub zwischen Familie und Mittelalter.
Christian reicht mir einen Holzquader. Ratlos zeichne ich ein paar Bleistiftlinien darauf und hacke eine kleine Ecke ab. Steffen beobachtet mich über den Rand seiner Lesebrille hinweg. Um mich herum tauschen die Bärtigen Rezepte aus: „Der beste Leim ist immer noch gekochter Birkenteer“, „Ich sage euch, Walkloden ist das Goretex des Mittelalters“, „Dafür brauchst du Kohlenstaub mit Urin“. Als meine Hiebe präziser werden, reicht mir Steffen wortlos sein gutes Beil. „Ich brauch keinen Kunststoff, wenn ich Geweih habe“, sagt Christian. Nachdem aus meinem Quader ein Zylinder entstanden ist, gibt mir Steffen ein Spezialwerkzeug mit runder Klinge, das ich noch nie zuvor gesehen habe. „War das ein Grabfund?“ – „Nein, ein Latrinenfund aus Haithabu.“ Zum ersten Mal stimme ich in ihr schepperndes Lachen ein.
Am Abend präsentiere ich Christian mein Tagewerk. Er untersucht den Löffel und nickt. In bin sehr stolz. Zwar kratzt mein Hemd noch immer, als würde sich ein Dutzend vollbärtiger Männer an meiner Brust reiben, doch von nun an trage ich es mit Fassung. Ich habe einen Löffel gemacht!
Während draußen am Feuer das Fett vom Fleisch in die Glut tropft, weichen die Grenzen zwischen Mittelalter und Neuzeit auf. Steffen, der Bogenbauer, hat seine Bierflasche auf den Tisch gestellt, Bernhard, der Jäger, versteckt seine Zigaretten nicht mehr im Lederbeutel. Nur Hardy trinkt seinen Campari-Orange weiterhin heimlich. Er ist neu in der Gruppe.
Nach dem Abendessen, das die Wikinger zusätzlich zu einem kleinen Taschengeld vom Zentrum bezahlt bekommen, wird am Lagerfeuer gezecht. Der Schmied lacht wie eine zu lange in der Sonne angebundene Ziege, der Bogenbauer bechert, bis er nur noch kichern kann, und der Jäger krächzt sein poröses Lachen in den Buchenrauch. Als das Bier knapp wird, schütten die Wikinger zusammen, was übrig ist. Alles gehört allen.
„Wir leben hier unsere Kindheitsträume“, sagt Jens. „Für uns ist das einfach Urlaub in einer anderen Zeit statt an einem anderen Ort.“ Er selbst erholt sich dabei ebenso gut wie andere im Wellnesstempel – und ist trotzdem froh, dass die Toilette auf dem Platz eine Spülung hat. Mit Widersprüchen dieser Art kann er umgehen, schließlich ist sein bürgerliches Leben als Gold- und Waffenschmied voll davon: Mal faltet er teure Damaszenerklingen nach uralten Vorlagen, mal robbt er mit einem Dolch durchs Unterholz und sticht auf der Treibjagd Wildsäue ab. Und einmal pro Woche geht der Rotarier ins Clubhaus, zur gehobenen Konversation mit den Wichtigen seiner Stadt.
Mit Deutschtümelei, sagt Jens, habe ihr Hobby nichts zu tun. „Bei Nazis“, sagt Christian, „hört unsere Gastfreundschaft auf.“ Ihre Sippe hat die Aachener Erklärung unterzeichnet, mit der sich Mitglieder der „Living History“-Szene gegen die Vereinnahmung durch politische Gruppen wehren – nordische Symbole wie Thors Hammer sind auch in der rechten Szene beliebt.
Später, als sich Bodennebel um den Lagerplatz zusammenzieht und der Vollmond lange Schatten wirft, erzählt Jens dann noch die Schöpfungsgeschichte der Wikinger. Zum ersten Mal sind alle still und lauschen. Von fern ist der Ruf einer Eule zu hören, und im Osten beginnt die Dämmerung.
Am nächsten Morgen, nach einer letzten Tasse Bohnensuppe am Feuer, helfen mir die Wikinger beim Abschlagen meines Zelts. Der Anblick der hilfsbereiten, unrasierten Sippe macht mich wehmütig. Zum Abschied nimmt mich Christian, von dem ich bis zuletzt nicht weiß, ob ich mich von ihm oder vor ihm beschützen lassen will, in den Arm, ehe er sagt, dass er mir was antun werde, sollte ich schlecht über seine Freunde reden. Dann lacht er. Am Ausgang fragt mich Bjarne, wie mir die Zeit in Ribe gefallen hat. Ich zwinkere ihm zu, ohne mich weiter zu erklären. Und verlasse mit einem Schwung Touristen das Mittelalter.
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