Ungeheurer Karneval


Seit Generationen vertreiben die Tschäggättä im Kanton Wallis zur Fastnachtszeit den Winter. Oder das Böse. Oder beides.

Die Zeit - Februar 2013
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Eigentlich liegt das Dorf im Winterdunkel friedlich da. Die Hütten tragen schwere Mützen von Schnee, und aus den Fenstern fällt warmes Stubenlicht und etwas Schattenspiel auf die Gässchen. Der Wind hat sich gelegt, ein eisiges Flüsslein gurgelt ins Tal. Das Dorf könnte die perfekte Idylle sein – wären da nicht die furchterregenden Gestalten irgendwo in der Finsternis hinter den Ställen, dort, wo sich die Felsen weit oben in der Nacht verlieren. Sie sind nicht zu sehen, doch jeder Dörfler weiß, dass sie bereits auf einen günstigen Moment zum Angriff lauern.

Da, gerade als eine Böe etwas Neuschnee von jenseits der Baumgrenze ins Tal fegt, klingt von fern eine Kuhglocke. Dann zwei, dann viele und nah und immer näher – und plötzlich lösen sich die Schatten aus der Nacht und zwei Meter große Wesen, breit wie Ochsen, mit zottigem Fell und hässlich wie der Teufel, rennen heran. Wen sie zu packen bekommen, den reißen sie mit sich und lassen ihn erst gehen, wenn sein Gesicht schwarz ist vom Ruß ihrer Pranken. Wer sich zwischen Mariä Lichtmess und Aschermittwoch ins Lötschental verirrt, der sollte auf der Hut sein. Denn in der Fastnachtszeit, während andernorts heiter geschunkelt wird, jagen die bösen Tschäggättä ihre Opfer in kleinen Rudeln. Sie treiben unbescholtene Passanten in die Enge, werden auch mal handgreiflich und begleichen nebenbei manch alte Rechnung im Dorf. Mit ihnen ist nicht zu spaßen.

Das schmale Hochtal im Schweizer Kanton Wallis, in dem jeder zweite Rieder oder Rittler heißt, verbindet erst seit den fünfziger Jahren ein schmales Sträßchen mit der Außenwelt. Zuvor waren die Bewohner im Winter eingeschneit und auch im Sommer meist auf sich gestellt. Eingeklemmt von steilen Hängen, haben sie Bräuche konserviert, die es draußen im Lande nicht mehr gibt und deren wahren Ursprung sie selbst vergessen haben. Einer dieser Bräuche ist das Tschäggättun, das nächtliche Marodieren übellauniger Gestalten, deren Schultern bis über die Ohren reichen. Die einen sagen, es sei ein heidnischer Brauch, um das Böse zu vertreiben oder den Winter oder beides. Andere sehen im Schwärzen der Opfer ein christliches Bußeritual. Wieder andere erzählen von den Ureinwohnern des Tals, die von den Alemannen auf die unwirtliche Schattenseite vertrieben wurden und die nur überleben konnten, indem sie nachts die Speisekammern der Besatzer plünderten. Da sie den mächtigen Alemannen unterlegen waren, schnitzten sie sich albtraumhafte Masken, um die Eindringlinge in die Flucht zu schlagen. Beweisen lässt sich keine der Geschichten.

Doch wer steckt heute unter den stinkenden Fellen und dämonischen Masken? Bruno Rittler aus Blatten am Ende des Tals muss es wissen. Der einsilbige Maskenschnitzer um die 50 hilft seinen Nachbarn beim Umziehen, bei der Verwandlung zur Tschäggätta. Sein Keller wirkt wie die Garderobe der Hölle. Von rußigen Wänden starren Fratzen an Fleischerhaken ins Leere. Alle paar Minuten betritt ein Dorfbewohner den Raum und verlässt ihn als Ungeheuer.

Gerade ist Nathanael an der Reihe. Ein netter Junge, 13 Jahre alt, kein bisschen furchterregend. Bruno Rittler setzt ihm ein mächtiges Polster auf die schmalen Schultern, legt ihm zwei Ziegenfelle über und zurrt ihm die schwere Glocke so fest um den Bauch, dass der Junge taumelt. Bei alldem spricht Rittler kein Wort. Zur Begrüßung ein Nicken, zum Umdrehen eine knappe Geste, zwischendrin ein paar Züge an der Pfeife im Holzregal, die ständig auszugehen droht und es doch nie tut.

Nathanael wirkt nun doppelt so breit, sein Gesicht ernster. Bruno Rittler reicht ihm eine Maske mit schiefen Zähnen und irren Augen und weicht schnell einen Schritt zurück, als sein Besucher sie vors Gesicht zieht. Eine Tschäggätta ist für ihn mehr als ein verkleideter Walliser. Sie ist von Natur aus wütend, ein Wesen aus dem Dunkel, dessen Aura nun auch auf Nathanael übergeht. Die Dörfler kennen die großen Wilden seit ihrer Kindheit und können sich doch nicht an sie gewöhnen.

Thomas Werlen, ein Schnitzer aus Ferden, ist 71 Jahre alt, und noch immer steckt ihm etwas von jener Angst in den Knochen, die er einst als Junge vor den Tschäggättä hatte. Damals, das war, als der Waschlappen im Winter am Spülstein festgefroren war und das kleine Wasserkraftwerk nur Strom für zwei Glühbirnen pro Haus lieferte. Als die Küche der einzige Ort mit Holzofen war und der Lehrer mit dem Rohrstock erzog. Beim Schlachter gab es ganze Unterkiefer vom Rind zu kaufen, die konnten die Tschäggättä für die Zähne in den Masken verwenden. Die übergroßen Schulterpolster waren noch nicht verbreitet, die Glocken kleiner. Das heißt, die Tschäggättä waren wendiger und schneller als heute. Nach Schulschluss lauerten sie den Kindern auf dem Heimweg auf, sagt Werlen, und seine fast blinden Augen leuchten dabei. Die Handschuhe waren schon damals »gitschäggud«, mit Ruß verschmiert, und wer nicht schnell vor der Bande davonlief, der war es auch.

Mehr zu fürchten hatten die unverheirateten Töchter in den Dörfern. Denn unter den Fellen steckten Burschen im schlimmsten Alter, die sich einmal im Jahr dem Würgegriff des Katholizismus entzogen und von verriegelten Türen nicht immer aufzuhalten waren. Oft ging es schamlos zu, bisweilen war auch Gewalt im Spiel. Der Kirche gefiel das ganz und gar nicht. Bereits im 19. Jahrhundert belegte ein Prior das unzüchtige Treiben mit 50 Rappen Strafe. Kein Bewohner des Lötschentals hätte so viel Geld aufbringen können. Trotzdem wurde das Verbot ignoriert. »Eher der Tod als in Knechtschaft leben«, sagt Thomas Werlen und lacht wie ein startender Traktor.

In den achtziger Jahren allerdings erließ der Talrat eine Sperrstunde für die Tschäggättä und pochte auf die Nachtruhe nach dem Abendgebet. Beinahe wäre der Brauch ausgestorben. Schließlich arbeiteten die jungen Männer nicht mehr wie früher auf dem Hof ihrer Eltern, sondern gingen in die Lehre – ihnen blieb nur die Nacht zum Verkleiden.

Dass es den Brauch heute noch gibt, ist Heinrich Rieder und seinem Bruder zu verdanken, den Söhnen einer berühmten Schnitzerin aus Wiler. Als sie von den Beschlüssen des Talrats hörten, trommelten sie einen verschworenen Haufen Tschäggättä zusammen und organisierten einen Protestlauf, verkleidet und zur verbotenen Zeit. Einen Politiker, der sich dem Zug in den Weg stellte, packten die zwanzig Urgestalten und schüttelten ihn – bis er brüllte, das werde Konsequenzen haben, und floh. Der Lauf aber wurde zur Institution. Jedes Jahr liefen mehr mit, auch Frauen und Kinder.

»Sein anarchisches Wesen hat der Brauch damit verloren«, sagt Heinrich Rieder, inzwischen 47 Jahre alt. »Bei uns hatte das damals eine unkontrollierbare Eigendynamik…« Rieder erzählt von verwüsteten Kneipen, überforderten Polizisten und Rippenbrüchen. »Die Tschäggättä verkörpern etwas Böses«, sagt er mit funkelnden Augen. Doch die Jugend sei heute friedlicher geworden. Und das meint er durchaus als Vorwurf.

Die meisten Talbewohner aber sind froh, dass diese Zeiten vorbei sind – selbst Bruno Rittler, vor dessen Tür die Tschäggättä wie tollwütige Bullen durch den Schnee preschen. Wer noch nicht verkleidet ist, muss sich beeilen: Gleich beginnt der jährliche Lauf von Blatten nach Wiler. Etwa zu hundert werden sie durch die engen Gassen stürmen und allzu mutige Schaulustige über den Haufen rennen. Das Spektakel hat sich längst herumgesprochen.

Das Tal, das noch vor hundert Jahren stöhnte, es sei »voller Fremder«, wenn im einzigen Hotel 25 Sommergäste schliefen, lebt heute von seinen Besuchern. Die Tschäggättä gelten als lokales Markenzeichen. Sie sind ein Symbol archaischer Unbeugsamkeit und ein modernes Werbemittel zugleich. Weil sich die Bräuche wandeln wie das Leben, nimmt kaum jemand Anstoß daran, dass die Maskenschnitzer im Tal zunehmend der Ästhetik von Hollywood und Halloween folgen. Und kaum jemand stört sich mehr am Samstagnachmittags-Spektakel von Wiler, dem Schaulaufen zur Kür der grässlich-schönsten Tschäggätta, mit Guggenmusik und Würstchenständen.

Heinrich Rieder beklagt zwar »Folklore und Kommerz«, lässt seine selbst geschnitzten Masken aber trotzdem zur Prämierung antreten. Und so steht er am Rand, wenn die einst wilden Gestalten nun brav in Reih und Glied und mit Nummern vor der Brust promenieren. Vorbei an Zuschauern, die Glühwein aus Plastikbechern trinken und die Speicherkarten ihrer digitalen Kompaktkameras aus der immergleichen Perspektive füllen. Vorbei an einem Mädchen, das Konfetti von ihrer Zuckerstange kratzt und gähnt. Vorbei aber auch an einem schüchternen Jungen, in dessen ängstlichen Augen der Zweifel steckt, ob hinter der Maske womöglich doch jemand Gefährliches lauert.

Die echten, die bösen Tschäggättä lassen sich natürlich nicht in Reih und Glied zwingen. Sie sind weniger geworden, denn mit dem überstrengen Katholizismus ist auch die Notwendigkeit verschwunden, einmal im Jahr den Teufel rauszulassen. Doch ganz werden sie das Tal wohl nie verlassen. Dafür sind die Nächte hier zu finster, die Hänge zu schroff und die Abgründe der halbstarken Seele zu unberechenbar.

︎