An den Rändern der Angst


Wie viel Gefühl ist gesund? Diese Frage treibt den Psychologen Niels Birbaumer seit einem halben Jahrhundert um. Seine Patienten haben entweder zu viel davon oder zu wenig. Wirklich zufriedene Menschen hat er da gefunden, wo man es am wenigsten erwartet hätte.
brand eins ↗
April 2019

Niels Birbaumer wurde drei Tage nach der Kapitulation der Wehrmacht auf dem Weg von der damaligen Tschechoslowakei nach Österreich geboren, war in seiner Jugend Anführer einer Wiener Straßengang und saß im Arrest. Erst die Drohung seines Vaters, ihn in eine Polsterer-Lehre zu schicken, versetzte ihm einen solchen Schrecken, dass er das Stehlen ließ und Psychologie und Neurophysiologie an der Universität Wien studierte. Mit 23 Jahren schloss er dort seine Promotion ab und wurde sogleich wegen politischer Agitation verwiesen. 50 Jahre später, im Winter 2018, verlieh ihm dieselbe Universität die Ehrendoktorwürde, bei deren Verleihung er die Honoratioren in einer knappen Rede an deren unrühmlichen Umgang mit ihrer Nazi-Vergangenheit erinnerte.

Zwischen diesen beiden Etappen wurde er zu einem der weltweit renommiertesten Neurophysiologen. Mit gerade mal 29 nahm er eine Professur am Lehrstuhl für Klinische und Physiologische Psychologie der Universität Tübingen an, wo er Epileptikern beibrachte, aufkommende Anfälle Kraft ihres Geistes zu verhindern. Dafür erhielt er 1995 den Leibniz-Preis, die wichtigste Auszeichnung des deutschen Wissenschaftsbetriebs. Später stellte er als erster Wissenschaftler Kontakt zu in sich selbst eingeschlossenen Menschen her, sogenannte Locked-in-Patienten. Als er diesen Durchbruch 1999 in der Fachzeitschrift »Nature« veröffentlichte, verneigte sich die Fachwelt vor ihm, dem Forscher mit der ruppigen Art. Seitdem hat er zahlreiche neue Behandlungsmethoden entwickelt, 23 Bücher geschrieben sowie 15 Auszeichnungen und vier Ehrendoktorwürden erhalten. Heute arbeitet der 73-Jährige überwiegend als Senior Research Fellow am Wyss Center für Bio- and Neuroengineering in Genf. Im Laufe seiner Karriere hat er emotionale Extremzustände studiert: von dauerpanischen Phobikern über furchtlose Psychopathen bis zu Menschen, die jenseits aller Sorgen zu leben scheinen.



brand eins: Herr Birbaumer, Ihre Methoden könnte man ungewöhnlich nennen. Werden Sie häufig als verrückt bezeichnet?

Niels Birbaumer: Ich denke schon, aber das interessiert mich nicht. Ich werde laufend angegriffen, das studiere ich erst, wenn’s justiziabel wird.

Würden Sie sich selbst als verrückt bezeichnen?

Nein, ich habe lange genug in der Psychiatrie gearbeitet, ich kenne die richtig Verrückten. Im psychiatrischen Sinne habe ich nichts davon, würde ich sagen.

Stimmt die Geschichte, dass Sie Ihren ehemaligen Angst-Patienten, einen Juwelier, Dutzende Male in Ihrem Mercedes auf den Beifahrersitz geschnallt haben und mit ihm so schnell über rote Ampeln gerast sind, dass sich der Patient vor Angst immer wieder auf dem Sitz Ihres Wagens eingekotet hat?

Ja. Der hatte innerhalb eines Jahres vier schwere Autounfälle und eine derartige Angststörung, dass er praktisch gelähmt und stumm war. Den habe ich dann ins Auto geschnallt. Konfrontation ohne Fluchtmöglichkeit. Ich habe mich auch nachts mit Handschellen an ihn gefesselt und im selben Bett geschlafen.

Das könnte man schon als ein bisschen verrückt bezeichnen.

Was, die Handschellen? Nein, der hatte so schlimme Albträume, dass er sich immer den Schädel an der Wand blutig gerannt hat. Diesen Kreislauf musste ich durchbrechen.

Aber etwas rabiat sind die Methoden schon …

Wenn Sie einen Hund dazu bringen wollen, keine Angst mehr vorm Autofahren zu haben, dann locken Sie ihn mit einer Wurst ins Auto und fahren mit ihm rum. Das Gleiche gilt für Menschen. Die Konfrontationstherapie ist das effektivste Mittel, das weiß man seit Jahrtausenden, seit den Sechzigern auch wissenschaftlich belegt. Heute wäre die Autofahrt eine Kassenleistung, dafür habe ich mich damals stark gemacht. Mittlerweile bereue ich das.

Aber Sie haben doch eben die Methode verteidigt.

Die Methode ist gut. Aber die Psychotherapeuten von heute sind genauso inkonsequent, wie die Analytiker schon immer waren. Die ordentliche Konfrontation ist denen zu anstrengend geworden. Mit meinen Zwangsneurotikern bin ich damals in den Park gegangen, und wir haben uns Hundekot ins Gesicht geschmiert. Wer macht das schon gern? Die Therapeuten heute sitzen lieber in ihrem Stuhl und quatschen.

Warum muss der Therapeut denn unbedingt selbst mitmachen?

Sie müssen Vorbild sein und selbst Angst oder Ekel zeigen. Der Patient muss merken, dass es mich auch graust, wenn ich mir die Scheiße ins Gesicht schmiere.

Wie erging es dem Juwelier nach der Behandlung?

Die Symptome haben sich in wenigen Wochen massiv gebessert, er hat seinen Führerschein neu gemacht und wieder gearbeitet. Nur war ich vielleicht ein bisschen zu optimistisch, als ich ihn zum Selberfahren ermutigt habe. Dummerweise hatte er nämlich wieder einen schweren Unfall. Und ich musste mit dem Theater von vorn anfangen. Aber am Ende konnte er wieder gut am Leben teilnehmen. Er ist vergangenes Jahr gestorben, mit fast 90.

Was haben Sie mit Ihrem Mercedes nach der Behandlung gemacht?

Verschrottet.

Fühlen Sie sich mit Ihren Methoden heute aus der Zeit gefallen?

Nein, denn wenn man Wissenschaftler ist, sollte man sich an wissenschaftliche Erkenntnisse halten. Ein Onkologe, der ein wirksames Mittel nicht verabreicht, wird vor Gericht gestellt, ein Psychotherapeut, der nur herumquatscht, nicht. Da wird mit zweierlei Maß gemessen.

Dann sind Sie kein Freund der zunehmenden Dünnhäutigkeit, die sich zum Beispiel in der Forderung zeigt, bestimmte Worte zu vermeiden, die Menschen verletzen könnten?

Begriffe aus Angst vor deren Bedeutung zu meiden ist Blödsinn. Dahinter stecken politische oder soziologische Gründe, aber keine wissenschaftlichen.

Leben wir in erregten Zeiten?

Ich kenne keine Zahlen, die das belegen. Sicher ist durch das Internet die absolute Zahl emotionaler Interaktionen gestiegen. Auch kann ich anonym leichter ausfallend werden, aber das geht auch mit einer Postkarte. Die Emotionalität insgesamt ändert sich nicht. Wenn Sie sich die Zahlen der vergangenen 100 Jahre anschauen, ist die Zahl der klinisch Depressiven immer gleich geblieben. Klar verkaufen die Psychiater das heute anders, aber dabei geht’s ums Geld.

Gibt es eine Konjunktur der Gefühle?

Sicher gibt es Moden. Die sind aber lokal spezifisch und klar soziologisch abhängig. Oder sie folgen so banalen Dingen wie dem Krankheiten-Katalog der American Psychiatric Association, die sich oft von der Pharma-Industrie bezahlen lässt und dann für sie die passenden Störungen erfindet. So sind wir zur Hyperaktivität und zum Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom gekommen.

Was ist mit der Empathie? Der Begriff ist in Mode, und gleichzeitig nimmt die messbare Empathie seit Jahrzehnten ab. Wie kommt’s

Das heißt, dass empathische Gefühle und empathisches Verhalten nicht zum gewünschten Erfolg führen. Das heißt nicht, dass die Empathie an sich abnimmt, sondern nur das entsprechende Verhalten aus Mangel an positiven Konsequenzen. Heute werden wir halt mehr für Selbstbewusstsein und Dominanz belohnt.

Haben Sie ein Lieblingsgefühl?

Angst, ganz klar. Und Angstfreiheit, die ist noch viel gefährlicher.

Bleiben wir vorerst beim Zuviel, bei der übertriebenen Angst. Wie entsteht die?

Ein gutes Beispiel ist die Schlangenphobie. Die ist bei uns in den Großstädten am häufigsten vertreten, obwohl es diese Viecher hier überhaupt nicht gibt. Am Amazonas finden Sie das kaum, da wird der Schlangenphobiker morgens zum Aufstehen therapiert, weil es genügend Schlangen gibt.

Welche Diagnose würden Sie unserer Zeit stellen, wenn Sie bei Ihnen auf der Couch läge?

Ich habe keine Couch, ich bin kein Analytiker.

Dann eben auf den Beifahrersitz geschnallt.

Unsere Zeit ist genauso gut oder schlecht wie alle anderen Zeiten auch. Durch die Veränderung des sozialen Gefüges verlieren manche Emotionen an Bedeutung, und andere gewinnen dazu. Aber an der Grundstruktur des Gehirns hat sich nichts verändert.

Was will das Gehirn?

Das Gehirn selbst hat kein Anliegen. Wenn Sie auf die Welt kommen, ist da Tabula rasa. Es lernt durch positive und negative Konsequenzen. Im Grunde rennt es immer dahin, wo es die nächste Dopamin-Ausschüttung gibt, das ist bei allen Säugetieren so. Es lernt aber auch durch assoziative Verbindungen, durch das Durchdenken der Dinge. Daraus entwickelt sich, was für ein individuelles Hirn erstrebenswert ist.

Was ist mit den Zornigen? Wie wird einer zum Wutbürger oder zum Ausländerfeind?

Psychologisch gesehen ist das die Angst vor dem Fremden. Das kann man nicht verhindern, das hat jeder. Aber wenn die Leute ihren ersten Syrer kennenlernen und der ihnen nichts tut, dann ist das meistens überwunden. So einfach ist die Welt.

Wer die Zeitung liest, dem vermittelt sich ein anderes Bild.

Da sind wir bei den soziologischen Faktoren. Schon Hannah Arendt oder viel früher Sokrates haben gezeigt, dass Fremdenfeind- lichkeit damit zusammenhängt, dass die Leute die Dinge, gegen die sie sind, nicht durchdenken. Es hängt davon ab, ob sie diesen kognitiven Aufwand betreiben.

Rassismus ist geistige Faulheit?

Ja. Die rechten Populisten nutzen schon immer den Trick, dass sie Möglichkeiten anbieten, um die Anstrengung des Durchdenkens zu umgehen. Einfache Alternativen. Damit ziehen sie vor allem Idioten an. Denn je dümmer einer ist, desto mehr Energie kostet das Durchdenken. Und wir haben halt 50 Prozent weniger Intelligente.

Hierzulande hat Bildung doch einen Effekt.

Aber es bleibt bei der Normalverteilung. In der Gesamtbevölkerung gibt es noch genauso viele Deppen wie vor 2000 Jahren, nur auf einem höheren Niveau. Der Aufwand, den wir betreiben müssen, damit wir die Vorgänge überhaupt noch kapieren, ist angesichts der heutigen Informationsflut enorm gestiegen. Für jemanden mit einem IQ von 80 oder 90 ist das nicht mehr durchschaubar.

Auch schlaue Leute können sich wie Idioten verhalten und einfache Antworten vorziehen.

Sicher.

Sie waren als Jugendlicher Anführer einer Jugendbande, die sich durch Diebstähle finanziert hat, und saßen kurz im Jugendarrest, weil Sie einem Mitschüler eine Schere in den Fuß gerammt haben. Warum sind Sie heute Psychologe und nicht Psychopath?

Ich habe einen leicht erregbaren Hautwiderstand.

Was bedeutet das?

Das ist ein Indikator für Angst. Das kann man am Salzgehalt in den Schweißdrüsen messen. Und wer Angst hat, der ist kein Psychopath. Per definitionem. Deswegen hat die Drohung meines Vaters, mich in die Lehre zu schicken, gewirkt. Ein Psycho- path hätte darüber nur gelacht.

Damit sind wir beim zweiten Extrem, mit dem Sie sich beschäftigt haben: der krankhaften Angstlosigkeit von Psychopathen. Kann man solche Leute überhaupt das Fürchten lehren?

Wir haben mit Psychopathen im Hochsicherheitsgefängnis gearbeitet. Die konnten wir erheblich modifizieren. Am Ende haben alle Angstreaktionen gezeigt.

Wie haben Sie das gemacht?

Mit Neurofeedback. Einfach gesagt, ist das eine Methode zur Kontrolle der eigenen Hirntätigkeit. Wir wissen, wie Angst im gesunden Gehirn aussieht. Den Psychopathen setzen wir Elektroden auf und visualisieren die Vorgänge in ihrem Gehirn auf einem Monitor. Die Patienten sehen ein Thermometer, das sie irgendwie mit Hirntätigkeit steigen lassen müssen. Wie sie das machen, wissen wir nicht, jeder entwickelt da seine eigenen Techniken. Der Monitor sagt nur wärmer und kälter.

Sie haben mit den Häftlingen neurologisches Topfschlagen gespielt?

Ja. Diese Methode wurde am Anfang verlacht. Auch vom langjährigen Direktor des Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik, Valentin Braitenberg. Den habe ich dann an unser System angeschlossen, und er hat sich in nur einer Sitzung selbst zu einem epileptischen Anfall geführt. Auf eigenen Wunsch, er hat mir ja nicht geglaubt. Nachdem er wieder bei Bewusstsein war, sind wir gute Freunde geworden, und er hat mir bis ans Ende seines Lebens geglaubt.

Wie lange hält der Effekt bei Ihren Psychopathen?

Das konnte ich nicht testen, die sind noch im Gefängnis. Nach der Behandlung wollte der Gefängnisdirektor von mir wissen, ob er die jetzt freilassen könne. Da habe ich lieber nichts gesagt. Mit Sicherheit weiß ich es ja erst hinterher.

Aber irgendwann endet auch die Haftzeit des schwersten Verbrechers. Dann könnte man ihn weiter untersuchen.

Ich habe nicht das Geld dazu. Und ich bin zu alt. Vielleicht meine Nachfolger. Aber das hält man auf Dauer auch schwer aus mit diesen Leuten. Die gehen einem irrsinnig auf die Nerven. Diese Gleichgültigkeit und völlige Wurstigkeit. Wenn ich heute so jemanden sehe, versuche ich dem aus dem Weg zu gehen.

Sind die Symptome so offensichtlich?

Ich meine, ja. Wenn ich im Kaffeehaus sitze, schaue ich immer, ob ich einen Psychopathen entdecke. Das ist mein Sport.

Was sind Ihre Kriterien?

Wenn ein Psychopath gute Laune hat, wirft er das Geld mit beiden Händen raus. Und wenn ihm was nicht passt, dann macht er einen Riesentango im Café. Dem ist das völlig wurscht, der haut auch seiner Frau eine runter und schmeißt sie vom Stuhl, ohne mit der Wimper zu zucken.

Gibt es so viele Psychopathen, oder gehen Sie in die falschen Cafés?

Man geht in den westlichen Industrieländern von ein bis zwei Prozent der Bevölkerung aus. Das sind in Deutschland rund anderthalb Millionen Menschen.

Aber die rennen doch nicht alle mit der Axt durch die Gegend, oder?

Nein, ich unterscheide zwischen den erfolglosen und den erfolgreichen Psychopathen. Die erfolglosen sehen wir im Knast, die werden meist straffällig. Die erfolgreichen aber sehen wir in den Chefetagen. Dort ist die Psychopathen-Quote mindestens doppelt so hoch wie in der Normalbevölkerung.

Was unterscheidet die beiden Gruppen?

Intelligenz, Bildung, Schicht, Umfeld. Wer schlauer ist, kann die Folgen seiner Taten besser abschätzen und auch ohne Mitleid oder Angst sein Verhalten so anpassen, dass er keinen Ärger bekommt.

Worin besteht die Gefahr durch erfolgreiche Psychopathen?

Diese Leute fürchten keinerlei negative Konsequenzen, weder für sich noch für andere. Denen ist ständig langweilig. Die Folgen sehen Sie in der jüngsten Finanzkrise. Wenn ich die beteiligten Banker untersuchen dürfte, könnte ich bei vielen eine pathologische Angstfreiheit messen, da bin ich mir sicher. Aber die lassen sich nicht untersuchen. Die wären ja auch schön blöd. Ohne Angst fühlt sich das Leben großartig an. Erfolgreiche Psychopathen kann ich nicht heilen, ich kann ihnen keinen Anreiz bieten.

Sie nehmen den Psychopathen durch Ihre Behandlung also ein Stück Lebensqualität?

Unbedingt.

Welchen Wert hat das Leben?

Es gibt überhaupt keinen anderen Wert als das Leben. Mit der Frage bin ich ständig bei meinen Locked-in-Patienten konfrontiert. Diese Leute können immer weniger Muskeln bewegen, bis sie vollkommen gelähmt sind. Dann haben sie keine Möglichkeit mehr, sich mitzuteilen. Die werden künstlich beatmet, liegen auf dem Rücken und können nicht einmal die Augen bewegen.

Damit sind wir beim dritten Extrem: bei Menschen, deren Selbst allmählich verblasst. Was bleibt ihnen?

Uns ist es damals gelungen, Kontakt zu ihnen herzustellen. Nach einigem Training können die Patienten durch Änderungen in der Durchblutung ihres Gehirns mit Ja und Nein antworten – und alle sagen, dass es ihnen gut geht. Das sind aber ausschließlich Leute, die jemanden haben, der sich liebevoll um sie kümmert. Meist der Partner, manchmal die Familie oder Freunde. Wer das nicht hat, der stirbt. Zumindest habe ich noch keinen anderen Fall gesehen. Und ich habe viele gesehen, in Europa, in Japan und in Israel.

Der Kern des Lebens ist die liebevolle Zuwendung?

Der Schweizer Schriftsteller Ludwig Hohl hat geschrieben: „Ist die Kommunikationsfähigkeit vorbei, so ist auch das Leben vorbei.“ Das sehe ich bei meinen Patienten jeden Tag. Zuwendung ist der molekulare Aspekt, und der reicht offensichtlich aus, um die Lebensqualität zu erhalten. Wenn der weg ist, ist die Lebensqualität null. Wer aber diese Minimalkommunikation hat, der hat auch im Locked-in eine gute Lebensqualität.

Deshalb sind Sie auch gegen Patientenverfügungen?

Wie kann sich ein gesunder Fünfzigjähriger vorstellen, wie das Leben mit Locked-in oder Alzheimer ist? Vielleicht fühlt er sich dann noch wohl, kann das Formular aber nicht mehr ändern. 90 Prozent der Menschen mit der Diagnose Amyotrophe Lateralsklerose, die zum Locked-in führt, entscheiden sich für das selbstbestimmte Sterben. Dabei wissen wir, dass nach den wirklich schrecklichen Monaten, in denen sich die Krankheit stetig verschlimmert und an deren Ende die Lähmung liegt, eine Besserung des Gemüts eintritt. Das Gehirn stellt sich auf die neuen Umstände ein. Darauf zu warten, bitten wir unsere Patienten. Wir haben aber mit jedem einen Vertrag, dass wir sie sterben lassen, wenn sie diesen Wunsch ein halbes Jahr lang äußern.

Wie oft mussten Sie diesem Wunsch bisher nachkommen?

Noch nie. Das ist sehr angenehm.

Sie vergleichen den Zustand der eingeschlossenen Menschen mit dem einer tiefen Meditation. Mit großer Zufriedenheit. Einem Zustand, der dem buddhistischen Nirwana gleicht.

Das ist eine Behauptung von mir. Der Zustand im Hirn sieht sehr ähnlich aus. Ich nenne das die Auslöschung des Willens. Wenn sich der Geist daran gewöhnt hat, dass auf jeden Wunsch die Nichterfüllung folgt, dann hört er irgendwann mit dem Wünschen auf.

Wenn ich nie kriege, was ich will, werde ich glücklich?

Dann schwinden die Begierden und Wünsche. Das behaupten die Buddhisten, wenn sie von totaler Offenheit ohne Reaktion reden: Lass die Gedanken kommen, lass sie gehen, versuche nicht, sie zu beeinflussen.

Um Ihre Patienten besser zu verstehen, haben Sie sich das tödliche Pfeilgift Curare spritzen lassen, das alle Muskeln lähmt. Sie wurden dabei von Spezialisten am Leben gehalten. Was haben Sie da erlebt?

Vollkommene Entspannung. Das Gift löst sofort alle Muskeln, und die melden dann ans Gehirn zurück, dass es keinen Grund mehr gibt, Angst zu haben. Ich war angstfrei.

Was ist mit der intellektuellen Angst, zum Beispiel, dass der Anästhesist neben Ihnen einen unaufmerksamen Tag hat?

Das ist die Grundfrage der Emotionsforschung. Sie ist bis heute nicht geklärt. Die James-Lange-Theorie besagt, dass ohne Peripherie, ohne die Anspannung von Muskeln keine Emotionen entstehen können. Nach meiner Erfahrung würde ich sagen: richtig.

Aber die Locked-in-Patienten teilen Ihnen doch ihre Emotionen mit.

Absolut. Die haben sie aber, weil sie sie eingespeichert haben. Sie geben sie aus dem Gedächtnis wieder. Ich vermute, dass sie in ihrer Intensität deutlich reduziert sind. Es gibt zwar Schmerzen durchs Liegen, aber der psychische Schmerz nimmt ab. Und mit ihm seine bedrohliche Wirkung, die Reaktion darauf. Auf lange Sicht haben unsere Patienten kaum noch negative Emotionen.

Wenn Sie mich jetzt mit einem Curare-Pfeil abschießen würden, wäre ich vollkommen angstfrei? Das klingt wünschenswert.

Aber nur, wenn Sie einen Anästhesisten dabei haben, der Sie am Leben hält.

In wenigen Wochen werden Sie zum ersten Mal Elektroden ins Hirn Ihrer Locked-in-Patienten implantieren, mit deren Hilfe sie ganze Sätze bilden sollen. An dieser Revolution arbeiten Sie seit Jahren. Freuen Sie sich, dass es nun endlich so weit ist?

Ich weiß nicht, das ist eine riskante Geschichte. Wenn meine Theorie von der Auslöschung des Willens stimmt, dann erlischt der Wille bei diesen Patienten irgendwann komplett. Und wenn es irgendwann keinen Willen mehr gibt, dann können auch meine Elektroden nichts mehr messen.

Sie arbeiten gegen Ihre eigene Theorie?

Ich möchte mir selbst – und meinen Patienten – beweisen, dass ich unrecht habe. Ich hoffe, dass ich unrecht habe. Dass da ein bisschen Wille übrig bleibt. Aus physiologischer Sicht habe ich Hoffnung, aber aus psychologischer Sicht mache ich mir Sorgen.

Sie haben im Juli 2009 in einem Interview gesagt, dass es in zehn Jahren ein System geben wird, mit dem gelähmte Schlaganfall-Patienten einfache Tätigkeiten ausführen könnten. Wenn Ihre Elektroden funktionieren, könnte man sie genau dafür einsetzen.

Das wird auch so kommen. Aber das war damals eine reine Behauptung. Glück gehabt.

Nachdem Sie sich so lange mit dem Gehirn beschäftigen, schonen Sie Ihr eigenes besonders?

Bedingt, ich lasse mich nicht von der Flut von Informationen überwältigen. Deshalb beteilige ich mich nicht an den sogenannten sozialen Medien und schaue kaum fern. Damit schone ich mein Hirn. Aber einen Fahrradhelm nutze ich nicht, obwohl ich viel Fahrrad fahre. Und beim Skifahren auch nicht, das ist mir zu lästig. Mit Drogen habe ich auch nicht aufgepasst, das hat mir ebenfalls nicht geschadet. Aber im Alter haben die ja kaum noch Wirkung, weil das Dopamin-System so runter ist. Vor Jahren war ich wieder mal in Hawaii, da gibt’s das beste Marihuana der Welt. Das hatte bei mir aber fast keinen positiven Effekt mehr. Das Hirn ist ja – wie alles – gebaut für ein Leben von 30 bis 40 Jahren. Es kann lange überleben, aber viele Mechanismen verschwinden im Alter. Nur der Alkohol bleibt ewig gefährlich.

Was wollen Sie noch erreichen, bevor Sie mit der Auslöschung Ihres Willens einverstanden wären?

Mit der Auslöschung meines Willens wäre ich sofort einverstanden. Damit fällt jedes Bedürfnis weg, etwas erreichen zu wollen. Und alle anderen Fragen auch.