Kein schöner Land


In den Nachkriegsjahren wurden drei Millionen Deutsche aus dem Sudetenland vertrieben. Sie mussten beinahe alles hinter sich lassen, das lässt sie bis heute nicht los. Einer von ihnen ist zurückgekehrt – in eine neue Heimat.
reporterreisen
September 2010

Wenn Erwin Scholz über die Irrwege seiner Jugend spricht, scheint es, als amüsierten sie ihn: Geboren 1927 in Reichenberg, Nordböhmen. Mit siebzehn zur Wehrmacht. Mit achtzehn Kriegsgefangenschaft und Arbeitsdienst in Italien. 1947 illegale Einreise zurück in die Heimat. Untersuchungshaft. Annahme der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft und zwei Jahre Wehrdienst bei der Volksarmee.

Und über all dem ein Grinsen, wie mit dem Bajonett gezogen.

Erwin Scholz wohnt in einem grauen Betonriegel in Liberec. Seine altersfleckigen Finger drücken nacheinander die 1 und die 0 im Fahrstuhl. Die Frontseite des Fünfzigerjahrebaus ist frisch gestrichen, hinten bröckelt der Putz. Wie durch eine verstopfte Arterie schiebt sich der Lift schwerfällig nach oben.

Auf der Fußmatte vor seiner Tür steht Liberec, als er hier geboren wurde, hieß die Stadt noch Reichenberg. Er schlurft in seine Zweizimmerwohnung. Auf dem brettharten Sofa liegen drei Kissen, da, wo er immer sitzt, wenn er Radio hört. Sein erster Gang führt ans Fenster. Tiefe Zufriedenheit erhellt sein Gesicht: Vor ihm reckt sich links das Isergebirge, rechts das Jeschkengebirge. Aus dem Küchenfenster kann er bis nach Polen und Deutschland sehen. Wenn sein guter Freund, der Kinderbuchautor Otfried Preußler anruft, dann fragt der immer zuerst: „Wie geht’s dem Jeschken?“ Preußler ist wie Erwin Scholz in Reichenberg geboren. Auch andere Freunde fragen immer zuerst nach dem Hausberg, dem weithin sichtbaren Wahrzeichen der Stadt.

Die anderen sind die Vertriebenen. Menschen wie Rudolf Simm, die in den Nachkriegsjahren ihre Heimat, das heutige Tschechien, verlassen mussten. Oft binnen weniger Stunden und nur mit dem Nötigsten auf dem Rücken. „Von der Heimat getrennt zu sein ist schlimmer als im Knast zu sitzen“, sagt Erwin Scholz, der beides erlebt hat.

Geduldig wie eine Spinne hockt Rudolf Simm im kleinsten Museum von Augsburg und wartet auf Besucher, die es nicht gibt. Auf einem Wandteppich steht der Name Reichenberg, die deutsche Bezeichnung für Liberec. Als Reychinberch taucht sie 1352 zum ersten Mal in den Büchern auf. Libercum ist seit 1634 bekannt. Seitdem gelten beide Namen.

In der Heimatstube türmen sich alte Fotos, Zeittafeln, historische Karten und Trachten. Wenn Simm von Reichenberg erzählt, schießen Zahlen und Daten aus dem 77-Jährigen: Hussiten ziehen über vergilbte Karten, Religionskriege flammen auf, und der Dreißigjährige Krieg wütet noch einmal in den Erzählungen des ehemaligen Lehrers aus Reichenberg.

Es regt ihn auf, wenn heute keiner mehr den deutschen Namen seiner Heimatstadt nennt und die Zeitungen nur von der Skiweltmeisterschaft 2009 in Liberec berichten. Als er ein Kind war, gehörten Tschechen zur Minderheit in der Stadt. Seine Eltern sind dort geboren und seine Großeltern und deren Eltern. Seine Ahnenreihe reicht bis ins 17. Jahrhundert zurück.

Im Jahre 1930 lebten dort rund 30.000 Deutsche, 17 Jahre später waren es noch 2000. Dagegen stieg in diesem Zeitraum die Zahl der Tschechen von 7000 auf 37.000. Rudolf Simm zieht sich seinen Janker mit den Hornknöpfen zurecht und schaut aus dem Fenster auf die Konrad-Adenauer-Allee. Am Tag der Sudetendeutschen hat der Herr Seehofer sehr nett gesprochen. Aber glauben kann er ihnen, den Politikern, nicht. „Kein Vertrauen mehr“, sagt er.

„Eine dieser Boshaftigkeiten der Tschechen“

Růtová Jiřina ist Marktfrau. An einem warmen Sonntag im Juni steht sie vor dem Liberecer Rathaus und verkauft selbst gebackene Pfefferkuchen. Die 61-Jährige kommt aus einem Dorf am Fuße des Ještěd, deutsch: Jeschken. Ihre Mutter und Großmutter sprachen noch fließend deutsch. Beide Nationalitäten lebten friedlich nebeneinander, berichtet sie. Die Tschechen halfen den Deutschen beim Kartoffelernten und die Deutschen den Tschechen beim Melken. „Wir konnten das mit der Vertreibung nicht verstehen. Viele von uns haben den deutschen Nachbarn ihre Pferdewagen geschenkt, damit sie ihre Habseligkeiten transportieren konnten.“

Der Platz, an dem die Marktfrau ihre Lebkuchen in Form von Herzen und Schweinchen verkauft, ist nach Edvard Beneš benannt, für Simm „eine dieser Boshaftigkeiten der Tschechen“. Die Dekrete, mit denen der Staatspräsident die Vertreibung der Sudetendeutschen rechtfertigte, bezeichnete Edmund Stoiber 2003 als “anhaltendes menschenverachtendes und völkerrechtswidriges Unrecht”. Simm spricht viel von Schuld und Gräuel, von Unrecht und Heimtücke. Von den Tschechen. Noch immer fliegen Geschichtsprojektile durch das enge Dreizimmermuseum.

Erwin Scholz setzt sich auf sein Sofa, unter sich drei Kissen und neun Stockwerke voller tschechischer Nachbarn. Vor ihm ein Bücherregal. Links tschechische Literatur, rechts deutsche. „Mir geht die halbnazistische Dudelei meiner deutschen Mitbürger auf die Nerven“, sagt er, „sicher sind das keine Revanchisten, aber irgendwann ist doch auch mal gut!“

Auch er ist nicht zufrieden mit dem Lauf der Geschichte. Wie auch? Er war Nazi, müsste „meschugge sein“, um das heute noch gut zu finden. Die Vertreibung der Deutschen hält er ebenfalls für ein Verbrechen, „damit haben sich die Tschechen auf das Niveau der Nationalsozialisten begeben“. Sicher haben die tschechischen Schulkinder anfangs in der Schule gelernt, dass die Deutschen erst 1938 ins Land kamen und allesamt Nazis waren. Aber seitdem ist viel passiert. „Das Fernsehen trägt viel zur Aufarbeitung bei.“ Kürzlich strahlte der öffentlich-rechtliche Sender ČT den einstündigen Dokumentarfilm „Abschlachten auf Tschechisch“ aus. Zu sehen war das Massaker an knapp 800 Deutschen in Postelberg, tschechisch: Postoloprty. Zur besten Sendezeit.

Seit der Vertreibung sind 65 Jahre vergangen. Erwin Scholz, der begeisterte Violinspieler, suchte eine musikalische Begleitung und fand Hilde, die begnadete Pianistin. Sie spielten zusammen, verabredeten sich auf dem Jeschken, verliebten sich. Heirateten, gingen zusammen ins Theater, beinahe wöchentlich. Sie notierte jedes gesehene Stück in ein schwarzes Büchlein. Anfangs Sütterlin, später Lateinisch und noch später unleserlich. Dann, 1979, Krebs. Hilde starb, er notierte weiter. Ging reisen, soweit das der Kommunismus zuließ. Kirgisien, Usbekistan, Turkmenien, Kasachstan. Ägypten. Kuba. Dazwischen der Prager Frühling. Schließlich die Wende. Deutschlandreisen.

„Wie können die ihr Leben auf 18 Jahre bis zur Vertreibung reduzieren?“, fragt er, den spitzen Kopf des Jeschken fest im Blick. Die, die heute im Einfamilienhaus in Süddeutschland sitzen, den Daimler vor der Tür stehen haben und die Enkelkinder auf die Uni schicken. Während er, Erwin Scholz, Hilfsarbeiter war und bis Ende der Achtziger statt freier Nachrichten nur den Staatsfunk hören konnte. „Die sind doch damals direkt in die Freiheit, das ist denen überhaupt nicht bewusst.“

Erwin Scholz erhebt sich schwerfällig aus den Kissen. Er muss noch den Müll runterbringen. An der Haustür hält er einen Plausch mit dem Nachbarn. Er spricht schon lange besser Tschechisch als Deutsch. Er ist heimgekehrt in seine alte Heimat und hat eine neue gefunden. Auf seiner Klingel steht Šolc, nicht Scholz.