Der Berg ist unser einziger Freund
Von beiden Seiten stürmen die Deutschen den Berg, treiben die zwölf zusammen und nehmen ihnen die Kleider ab. Der jüngste Partisan ist 19 Jahre alt. Um Munition zu sparen und um den Feind leiden zu sehen, schlagen die SS-Männer ihre Opfer halbtot und stoßen sie den Abhang hinab. Die Schreie der Sterbenden begleiten den Abstieg der Soldaten. Es ist der 17. Juni 1944, und die deutschen Truppen „durchkämmen“ die Berge und Täler des Val Grande im norditalienischen Piemont auf der Suche nach Aufständischen.
Antonietta Chiovini – die damals jeder nur „Diciassette“ (Siebzehn) nennt, weil sie in diesem Alter zum Widerstand kam – findet zwei Tage später die verrenkten Leiber im Hang. Sie hat genug Verwundete versorgt, um zu sehen, dass diese zwölf keinen schnellen Tod gefunden haben. Es dauert Stunden, bis sie ihren guten Freund, den „Commandante Rolando“, unter den geschundenen Leichen erkennt. In ihrem Rücken wacht stumm und düster die Kapelle von Marona über das Tal. Vor einem Jahr, vor einer Ewigkeit also, hat ein Priester ihr die Augen für die Gräuel des Faschismus geöffnet – in diesem Moment wendet sich die junge Katholikin ab von Gott.
Über zwei Jahrzehnte hatte der Faschismus Benito Mussolinis jeden Winkel Italiens durchzogen. Als König Viktor Emanuel III. den Diktator im Juli 1943 festnehmen ließ und die neue Regierung kurz darauf einen Waffenstillstand mit den Alliierten unterzeichnete, besetzten ehemals verbündete deutsche Truppen den Norden des Landes. Als Fallschirmjäger der Wehrmacht Mussolini wenig später befreiten und der die Gründung der faschistischen Republik von Salò in Norditalien ausrief, wuchs der Widerstand. Tausende Militärangehörige und Zivilisten wurden von den Besatzern ermordet oder deportiert. Viele flohen in die Berge und schlossen sich den Partisanen an, die sich bis dahin vorwiegend aus antifaschistischen Kriegsdienstverweigerern rekrutiert hatten.
Das 146 Quadratkilometer große Gebiet des heutigen Nationalparks Val Grande erklärten die Antifaschisten im September 1943 zur freien „Partisanenrepublik Ossola“. In kaum einer anderen Region Italiens war der Widerstand gegen die Übermacht der Besatzer so wehrhaft wie in den zerklüfteten Tälern um den Lago Maggiore. Heute zieht das größte zusammenhängende Wildnisgebiet der Alpen Naturfreunde aus ganz Europa an – vor allem aus Deutschland und der Schweiz.
Der Erfolg des Widerstands in diesem Teil der italienischen Alpen ist nicht zuletzt der Unzugänglichkeit des Terrains zuzuschreiben, dessen Zweitausender noch bis in den Sommer Schneefelder tragen. Von hier gelang es den 450 Partisanen immer wieder, die Infrastruktur der deutschen Besatzer und der italienischen Faschisten empfindlich zu stören. Sie nutzten ihre Ortskenntnis, um einen Kleinkrieg zu führen mit blitzartigen Sabotage-Aktionen gegen Munitionszüge, Waffenfabriken und Wasserkraftwerke.
War eine Aktion gelungen, tauchten sie im Schutz der Nacht über alte Maultierpfade lautlos in das Schwarz der Berge ein. Wer fremd war in der Gegend, konnte die schmalen Wege kaum vom Dickicht unterscheiden. Bisweilen zogen die Soldaten so dicht an den reglosen Partisanen vorbei, dass die Widerstandskämpfer in ihren Verstecken sie hätten berühren können.
Die Faschisten, die sich in Villen rund um den Lago Maggiore eingerichtet hatten, trieb dieses „feige Vorgehen“ zur Weißglut. Sie organisierten „Durchkämmungen“, bei denen mindestens 5000 Soldaten aus Deutschland das Gebiet durchsuchten und jeden töteten, der im Verdacht stand, den Widerstand zu unterstützen. Allein im Juni 1944 starben im Val Grande rund 300 Partisanen, 450 Gebäude wurden niedergebrannt. Die Überlebenden kämpften bis zum Ende des Krieges.
Sieben Jahrzehnte später steht Antonietta Chiovini krumm wie eine Krüppelkiefer in ihrem 300 Jahre alten Häuschen in den Bergen. Von Gott hat sie seit dem Massaker an der Kapelle von Marona nichts mehr gehört. Sie hat aber auch nicht mehr nach ihm gefragt, sagt sie. Wenn sie erzählt, macht sie gerne Witze und lacht sich die Angst jener Tage von der Seele. Obwohl sie nicht weit entfernt wohnt, war sie seit jenem wolkenverhangenen Tag im Juni 1944 nicht mehr dort oben, wo heute die Wanderer – meist aus Deutschland – den Ausblick und die Ruhe genießen.
„In meinem Leben werde ich dort nie wieder sein“, sagt sie. Wer die 90-Jährige kennt, der weiß, dass sie Wort halten wird. Ihre Familie ist im Tal wohlbekannt, ihr Name dort ein Adjektiv: Wer chiovini ist, der ist, schmeichelhaft übersetzt, stur wie eine Bergziege. Fragen zu ihren Erlebnissen auf dem Gipfel des Marona beantwortet sie mit einem langen und eindringlichen Blick. Ihre tief liegenden Augen scheinen dann nach innen zu sehen, ihre Stirn wird faltig wie die Borke eines alten Baumes. Nach einer Weile sagt sie: „Ich habe da oben zu viel gesehen“. Weiter sagt sie nichts. Doch das ist schon mehr als all die Jahrzehnte zuvor.
Die ehemalige Partisanin steigt noch immer jeden Sommer die 200 Höhenmeter über Felsbrocken und Wurzelbuckel zu ihrer Sommerhütte auf. Die hochgerüsteten Wanderer, die sie passieren, brauchen für den Pfad in ihren atmungsaktiven Trekkinghemden vierzig Minuten. Antonietta Chiovini geht langsamer, aber sie geht. Es scheint, als überdauere die vom Alter gebeugte Frau die Zeit.
Dabei sagt sie: „Ich bin schon tot.“ All ihre Genossen hat sie inzwischen begraben. Ihren Mann bereits vor 21 Jahren, den im Tal berühmten „Commandante Marco“, der 1944 die Partisanenbrigade Cesare Battisti gegründet und angeführt hat. Zwar hat sie acht Enkel – aber die leben ein eigenes Leben. Ihre Aufgabe auf Erden sei erfüllt, sagt sie. Was noch bleibe, sei: Zeugnis abzulegen über den Kampf in den Alpen.
Gebirge spielen in der Geschichte des Widerstands in vielen Gegenden der Welt eine entscheidende Rolle. Der Berg ist unser einziger Freund, sagen die bewaffneten Kämpfer der Kurden, wenn sie sich ins Kandil-Gebirge zurückziehen. Dorthin, wo sie die Bodentruppen der türkischen Armee kaum verfolgen, weil sich die Täler so eng winden, dass jede Kurve zum Hinterhalt werden kann. Eine fast uneinnehmbare Festung, von deren Gipfeln man Eindringlinge kilometerweit erspähen kann, während die Vegetation an den Hängen bei Luftangriffen Deckung gibt.
Doch eine Festung kann zur Falle werden, wenn sie belagert wird. So gelang es zwar Tausenden Jesiden im Juli 2014, vor den Milizen des Islamischen Staats in den nordirakischen Dschabal-Sindschar-Höhenzug zu fliehen. Doch dann saßen sie in ihren heiligen Bergen fest und waren auf die Hilfe der USA und kurdischer Peschmerga angewiesen.
Auch die kubanischen Revolutionäre konnten die übermächtige Armee des Diktators Batista nur schlagen, weil sie die undurchdringliche Sierra Maestra im Rücken und die tatkräftige Unterstützung der Bevölkerung um sich hatten. Je unwirtlicher die Natur, desto besseren Schutz vor Angreifern bietet sie. Doch umso wichtiger ist auch die Hilfe der Einheimischen. Im Val Grande teilten viele Bewohner das wenige Essen, das ihnen geblieben war, mit den Partisanen, gaben ihnen Obdach, obwohl sie damit ihr Leben aufs Spiel setzten, und ließen Bäume am Wegesrand verwildern, damit sie bei Dämmerung Schutz böten.
Damals wurden noch Dutzende Almen im Val Grande bewirtschaftet, heute ist es keine einzige mehr. Antonietta Chiovini beobachtet betrübt, wie sich die Natur jedes Jahr mehr von dem zurückholt, was der Mensch freigibt. Erst kamen die Farne, überwucherten alles mit ihren Wedeln, dann Birken, Ahorne und Eschen, die binnen weniger Jahre eine Wiese in ein Wäldchen verwandeln. In einigen Jahrzehnten werden hier nur noch Archäologen die Spuren der Zivilisation ausmachen können.
Die Partisanin von einst erkennt manchen Hang kaum mehr wieder, heute ist fast jeder Fleck bewaldet und nicht mehr terrassiert für den Anbau von Weizen oder beweidet von Vieh wie in ihrer Jugend. Sie fürchtet, dass das Gras der Unwissenheit ebenso über ihren Kampf für die Freiheit und gegen die Unterdrückung wachsen könnte und damit all die Grausamkeit noch sinnloser wird, als sie es ohnehin schon war.
Antonietta Chiovini verbringt ihre Jugend im Städtchen Verbania. Im Klassenraum hängt ein Porträt des „Duce“; gelehrt wird der Faschismus. Bei einer Reise nach Turin lernt sie den Priester Don Guiseppe kennen, der ihr in langen Gesprächen die Augen für die Irrlehren des Faschismus öffnet. Es ist, als erwache die Schülerin mit den langen Zöpfen aus einer Narkose. Wenige Wochen später schließt sie sich mit ihrem Bruder dem Widerstand an. Ihre Eltern werden vor Angst in den kommenden zwanzig Monaten kaum mehr eine Nacht durchschlafen.
Am Anfang malt Antonietta Chiovini politische Parolen an die Wände, verteilt die verbotenen Zeitungen „L’Unità“ und „Il Ribelle“ in Mailand, schmuggelt Waffen ins Val Grande. Später zieht sie als Meldeläuferin durch die Berge. Als Mädchen, das alleine unterwegs ist, zieht sie weniger Verdacht auf sich als bewaffnete Männergruppen. Von der rauen Natur um sie herum fühlt sie sich bedroht und beschützt zugleich. So trägt sie in langen Märschen Essen, Munition und Nachrichten auf die Almen, zu den verstreuten Grüppchen, die sich bei Tageslicht verstecken. Sie quartiert Verwundete bei Verbündeten im Tal ein, pflegt die Kameraden. Sieht sie sterben. Sieht so viele sterben.
Am Leib trägt man, was man bei sich hatte, als man sich den Partisanen anschloss, erzählt sie. Bei ihr ist das ein wollener Rock. Im Juni wie im Dezember. Der Rest ist Improvisation: etwas Vibramgummi an die Sohlen der Holzschuhe genagelt, ein alter Schlafsack wird zum Mantel und die Kleider der Toten wechseln den Besitzer. Eine Schneiderin näht den Kameraden Unterhosen aus einem Wehrmachtsfallschirm, der sich im Geäst verfangen hat. „Das hat funktioniert“, sagt sie und fegt mit ihren Arbeiterhänden ein paar Krumen vom Tisch.
Später führt sie als „Diciassette“ jüdische Familien durch Buchen- und Kastanienwälder, vorbei an Almwiesen, über Grate und durch Schluchten bis in die Schweiz – und damit aus dem sicheren Tod ins Leben. Drüben zu bleiben, ist für sie keine Option. Ihr Bruder ist Partisan, ihr Freund, ihre Freunde. Was geschehen wäre, wenn die Faschisten sie erwischt hätten, will sie sich nicht ausmalen.
„Im Krieg geht manchen das Menschliche verloren“, sagt sie. Wie jenen jungen Männern aus Deutschland, die zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort vielleicht gewöhnliche Arbeiter und Familienväter gewesen wären, die aber hier, im Krieg, zwei Partisanen lebendig auf einen Scheiterhaufen binden, ihnen ungeschälte Kastanien in die Münder stopfen und zusehen, wie sie verbrennen. Auch währenddessen habe Gott geschwiegen, sagt Chiovini. Nur die gedämpften Schreie seien zu hören gewesen. Als die jungen Männer sterben, sind sie nicht einmal zwanzig Jahre alt. Wie ihre Mörder.
Von den 350 Partisanen, zwischen denen „Diciassette“ hin- und hergelaufen ist, haben nur fünfzig das Kriegsende erlebt, sagt sie und steht auf. Langsam und gebeugt geht sie zum Holzofen, als schritte sie gegen einen schweren Sturm an, der in ihrer Hütte tobt. Doch wenn sie Kaffeepulver in die Kanne füllt, sind ihre Hände so ruhig wie vor siebzig Jahren, als sie mit dem Feldstecher die Hänge nach Freunden, Feinden und Toten absuchte.
Wenige Jahre nach dem Krieg reisen die ersten deutschen Urlauber zur Sommerfrische ins Piemont. Unbewaffnete Mädchen mit blonden Zöpfen grüßen die Partisanin artig in der Sprache der SS. Die jungen Besucher aus Deutschland scheinen keine Ahnung zu haben, was hier kurz zuvor geschehen ist. In den folgenden Jahrzehnten kämpft Antonietta Chiovini für die Rechte der Frauen und für den Kommunismus – den italienischen, nicht den russischen, wie sie mit erhobener Braue betont. Ihr Mann, der „Commandante Marco“, wird Grundschullehrer. Heute vermietet ihr Enkel die kleinen Sommerhäuschen neben ihrem an Touristen aus aller Welt – vor allem aus Deutschland.
Manche von ihnen wandern dann zur Kapelle von Marona und genießen die friedliche Ruhe des Ortes. Sie lassen sich auf die steinerne Schwelle sinken und spüren den kühlen Atem des Gotteshauses, bevor sie über die Teufelsbrücke nach Pian Cavallone absteigen. Im Tal liegt der Lago Maggiore, am Ufer sonnen sich die Ziegeldächer von Intra. Fern ist der Alltag hier oben, unhörbar der Lärm der Zivilisation.
Still betreten die Besucher das kleine Gotteshaus. Unter einem hölzernen Kruzifix, dessen Jesusfigur ein Bein fehlt, liegen ein paar Knochen hinter halbblindem Glas. Seltsam, denkt mancher, von welchem Tier die wohl stammen? Die italienische Inschrift auf der halb vermoderten Gedenktafel ist kaum mehr zu entziffern. Sie erinnert an die toten Partisanen, deren sterbliche Überreste erst Jahre später gefunden und hier gesammelt wurden. Dann ziehen die Wanderer weiter und es ist wieder ruhig dort oben, wenige Meter unter dem Gipfel des Marona, ganz im Osten des Nationalparks Val Grande im Piemont.
Wenn Antonietta Chiovini in einigen Jahren nicht mehr da ist, wird es keinen mehr geben, der vom Kampf in den Bergen erzählen kann. Der sich geschworen hat, nie wieder zur Kapelle von Marona hinaufzusteigen. Dorthin, wo sie ihre Kameraden und ihren Glauben verloren hat. Wo die Knochen ihrer Freunde hinter Glas ruhen. Sie will nicht, dass das vergessen wird, ihr Kampf und die Toten. Es wäre sonst so sinnlos, alles. „An diesem so schönen Ort“, sagt sie. „Das ist doch das Paradies, oder?“