Der Herr des Vergessenen
250.000 Dinge verlieren Zugpassagiere hierzulande pro Jahr, rund 685 jeden Tag. Vieles davon findet den Weg zurück zum Besitzer: im Durchschnitt 60 Prozent der Fundstücke, bei Laptops und Musikinstrumenten sogar mehr als 90 Prozent. Das sind beachtliche Zahlen, mit denen das bundesdeutsche Fundbürowesen nicht mithalten kann. Der Aufwand, den die Deutsche Bahn für jene treibt, die sie im Konzernsprech „Verlierer“ nennt, ist immens. Walter Schreiner ist für die harten Fälle zuständig, die niemals abgeholten Sachen. Bis ein Koffer bei ihm landet, hat er einen langen Weg hinter sich.
Findet ein Reisender im ICE von München nach Stuttgart einen herrenlosen Hut und gibt ihn beim Zugpersonal ab – Schreiner nennt solche Leute „die ehrlichen Finder“ –, dann wird der Hut zur nächsten von 83 Fundstellen gebracht. Dort wird er auf Indizien geprüft, die auf seinen Halter schließen lassen. Findet sich etwa eine Visitenkarte in der Krempe, schreibt ein Bahnmitarbeiter den Verlierer an, der nun drei Wochen Zeit hat, seinen Besitz gegen eine Gebühr von fünf Euro abzuholen. Findet sich keine Adresse im Hut, verbleibt er sieben Tage vor Ort. Verstreicht diese Frist, rückt der Fund ein Stück näher an Walter Schreiner heran: per Spedition nach Wuppertal, in die zentrale Sammelstelle.
Jeden Tag schlägt dort, direkt neben Gleis 1 des Hauptbahnhofs, die neue Ware auf – containerweise aus ganz Deutschland. Für die 14 Mitarbeiter in Wuppertal heißt das allmorgendlich: Kaffeetasse beiseite stellen und auspacken. Um die 200 Stücke liegen in den Containern, von der Gedenkmünze bis zur Plüschgiraffe. Jedes Teil wird begutachtet, mit den Verlustmeldungen in der Datenbank abgeglichen und der richtigen Fachabteilung des verwinkelten 1300-Quadratmeter-Baus zugeteilt.
Das Haus ist rund hundert Jahre alt, Linoleum und Leuchtstoffröhren verleihen ihm den Charme eines Liegenschaftsamts aus der Vorwendezeit. Das passt, denn hier geht’s ausschließlich um nüchterne Logistik. Tausende Gegenstände jeglicher Größe müssen fachgerecht eingelagert, dokumentiert und später wieder ausgelagert werden.
Jeder Reisekoffer, jeder Wäschesack, jeder Geldbeutel wird noch einmal eingehend inspiziert. Die Kollegen aus der Technik durchsuchen Festplatten, die Portemonnaie-Abteilung recherchiert im Internet, die Kleidersektion greift tief in Innentaschen. Gibt es neue Halterindizien, geht ein neuer Brief raus, die Abholung kostet von nun an 15 Euro. Findet sich in einem Schuh unter der Einlegesohle ein versteckter Fünfziger, wird das Geld auf einem Frankfurter Treuhandkonto geparkt. Verderbliche Ware kommt in den Müll, aber in allen anderen Fällen heißt es: warten, ob sich der Verlierer meldet, weitere 70 Tage. Erst danach gibt man die Hoffnung auf, ihn zu finden. „So!“, sagt Walter Schreiner, „jetzt kommt mein Job. Jetzt räume ich aus den Lagern ab.“ Denn nun ist die Zeit gekommen, die Sachen für die Versteigerung vorzubereiten.
Walter Schreiner hat die Statur eines Eisenbiegers, den Händedruck eines Fremdenlegionärs und das unwiderstehliche Lächeln eines Showmasters aus vergangenen Fernsehtagen. Seit dem 1. August 1973 ist er bei der Bahn, bald hat er sein ganzes Arbeitsleben dort verbracht: „Noch fünf Jahre und acht Monate, dann ist Rente.“ Von Ermüdung zeigt der 60-jährige Düsseldorfer keine Spur, dabei hat er nicht gerade wenige Etappen hinter sich: Hauptschule, Ausbildung bei der Deutschen Bundesbahn, daneben Abendschule bis zum Abitur. Techniker, Verbeamtung, Fahrdienstleitung, Betriebsaufsicht, Management. Dutzende Stationen, ein Konzern. „Ich habe schon alles gemacht, immer nach fünf Jahren was Neues, das war mein Motto, sonst wird’s langweilig.“
Doch dann kam er zum Wuppertaler Fundbüro, Abteilung Versteigerungsvorbereitung: „Und da bin ich dann kleben geblieben.“ 1999 war das. Seine Aufgabe ist es, die Fundstücke zu sortieren und aus dem Inhalt von zehn Koffern einen neuen zu packen. „Ich mache Ü-Eier für Erwachsene“, sagt Schreiner. Will man der Verdauungsmetapher vom Anfang nicht länger folgen, kann man ihn auch als den Unfallchirurg der deutschen Reiseseele betrachten. Auf seinem Seziertisch offenbart sich ihm jeden Tag der Querschnitt der Gesellschaft. Seit 20 Jahren zergliedert er dort die Hinterlassenschaften der Reisenden, vom Businesstrolley aus Frankfurt über den Familienkoffer aus Böblingen bis zum Festivalrucksack aus Leipzig.
Er kennt den Unterschied zwischen der akkuraten deutschen Faltkultur und dem platzsparenden asiatischen Rollen. Er weiß, woran man eine gefälschte Louis-Vuitton-Handtasche erkennt und was ein Rimowa-Trolley aus der vorvergangenen Kollektion kostet. Er erkennt die meisten Kleidermarken auf mehrere Meter Entfernung und würde nie ein Samsung Galaxy A7 mit einem Samsung Galaxy A9 verwechseln. „Eigentlich hätte ich bei ‚Wetten, dass …?‘ auftreten können“, sagt Schreiner. Im Laufe der Jahrzehnte hat er viele Trends kommen und gehen sehen: „Den ersten Sony-Walkman, noch mit Kassette, dann den Discman, später die ersten Handys wie das Nokia 3210.“ Früher eine Seltenheit, kommen Mobiltelefone heute mit jährlich 20 000 Verlusten direkt nach Gepäckstücken, die 53 000-mal vergessen werden.
Bevor er die Fundstücke neu zusammenstellt, prüft er sie – nach dem in der Abteilung geltenden Vier-Augen-Prinzip gemeinsam mit einem Kollegen – erneut. Nun kommt alles in den Müll, was schmutzig, kaputt oder wertlos ist. Festplatten gehen nach oben in die Technik zum Löschen – Datenschutz. Karten und Dokumente aus Geldbörsen werden von einer externen Firma vernichtet. Ausweise und Reisepässe hingegen sind Eigentum des Ausstellungslandes und müssen dorthin geschickt werden. Bei Drogen und Waffen ruft er die Polizei.
Wenn das alles geregelt ist, macht Schreiner Häufchen. Und füllt dann ein Täschchen mit Herrenarmbanduhren. Einen Koffer mit Sportartikeln. Ein Paket mit iPhones, eines mit Ladegeräten, eine Überraschungskiste mit nagelneuen Turnschuhen und – Highlight jeder Versteigerung – einen „Koffer ab 18, mit Spielzeugen für Erwachsene“. Die Koffer werden geschlossen versteigert, Schreiner gibt nur Hinweise auf den ungefähren Inhalt. Gerade genug, damit die Besucher anbeißen. Und sie beißen an, zahlen schon mal mehrere Hundert Euro für einen Koffer. Nicht selten sind das Händler, die die Sachen dann weiterverkaufen.
Fast jeden Donnerstag findet in Wuppertal eine Auktion statt, alle paar Wochen kommt ein Außerhaustermin hinzu, irgendwo im Land. Seit 20 Jahren moderiert Walter diese Veranstaltungen – mit einem rheinischen Charme, dem schwer zu widerstehen ist. Hinzu kommt die Erfahrung: Er weiß, wie er Schwaben das Geldsäckle öffnet, Franken zum Lachen und Thüringer zum Tanzen bringt. Professionell gelernt hat er das Versteigern nie, eine Schulung gab es nicht. Seinen ersten Auftritt in Wuppertal begann er mit den Worten: „Mein Name ist Walter Schreiner – und jetzt stellen Sie sich bitte vor.“ Der Saal tobte, das Eis war gebrochen und Walter Schreiner fortan nicht mehr von der Bühne zu kriegen. Er heizt den Massen ein, zieht übereifrige Käufer auf die Bühne und präsentiert die heißesten Fummel am eigenen Leib. Sein Rekord liegt bei sechs Stunden Show ohne Pause. In Freilassing war das. Heute macht er nur noch drei Stunden. Das reicht auch.
Schon das Kofferpacken könnte eine heitere und unbeschwerte Aufgabe sein, wäre da nicht eine weitere Hürde: Der Verlierer hat drei Jahre lang einen gesetzlichen Anspruch auf den Verkaufserlös. Weil kein Koffer samt Inhalt im Urzustand versteigert wird, ein sich spät meldender Verlierer aber dennoch zu seinem Recht kommen muss, überträgt Schreiner beim Umpacken akkurat ins System, welches Ding er aus welcher Fundsache herausgenommen hat, auf welchen Wert er oder seine Kollegen es taxieren, für wie viel er es anbieten will und – später – für welchen Betrag er es losgeschlagen hat. So kann er daraus die Gesamtsumme errechnen, die für den Originalkoffer fällig würde. Wer das kompliziert findet, der lege diesen Text bitte kurz beiseite und gedenke jener Kollegen, die diese Arbeit bis zur Einführung des EDV-Systems „verloren&gefunden“ im Jahr 2002 mit einem unermüdlichen Protokollanten, Räumen voller Aktenordner und einer heute nicht mehr zu verstehenden Geduld erledigt haben.
Die Antwort auf die Eingangsfrage, wie die Bahn zu ihrer beachtlichen Retourenquote komme, lautet also schlicht: mit unglaublicher Akribie. Das System ist so komplex aufgebaut, mit 83 Außenstellen, mehr als 600 Mitarbeitern und Millionen Gegenständen, dass es im Grunde nicht mehr abzuschaffen ist. Der Betrieb kostet 3,5 Millionen Euro im Jahr, die rund 90 Versteigerungen im ganzen Land bringen gerade mal knapp 350 000 Euro ein. Würde man eine Abteilung aus dem Gesamtgefüge nehmen, es bräche in sich zusammen. Jede Eventualität ist mit einer anderen verzahnt.
So passiert es zwar selten, dass sich ein Verlierer nach Jahren noch meldet – aber es kommt vor. Einmal sei ein gut gekleideter Herr mit eingefallenen Wangen in Schreiners Büro gestürmt und habe Unverständliches gemurmelt. Als der Versteigerungsvorbereiter verstand, dass der Besucher sein Gebiss suchte, zeigte er ihm seinen Fundus. Noch ehe er die einzelnen Modelle vorstellen konnte, hatte sich der Herr das passende Stück zufrieden schmatzend eingesetzt und war mit einem knappen Dankes- wort davongeeilt. Zurück blieb ein ausnahmsweise sprachloser Walter Schreiner, der nicht wusste, ob er sich mehr über die geprellte Bearbeitungsgebühr ärgern oder über das seit vielen Wochen im Regal eingestaubte, ungereinigt eingesetzte Gebiss amüsieren sollte. Er entschied sich für die zweite Option.
Nach all den Jahren fällt es ihm fast schwer, die skurrilsten Funde aufzuzählen, so viele waren es. „Mich schockt nichts mehr, ich habe alles gesehen“, sagt er. Wie einst die Brustimplantate und das halbe Schwein im Koffer. Oder die Stradivari und das Bundesverdienstkreuz – das übrigens bis heute keiner abgeholt hat.
Beim Rundgang durch die einzelnen Abteilungen zeigt er hier und da – fast beiläufig – auf einen wurmstichigen Feldfernsprecher aus dem Ersten Weltkrieg, eine intakte Unterschenkelprothese, eine kühlschrankgroße Klimaanlage, einen bierkistenschweren Fußballpokal, eine feuerwehrrote Sackkarre, auf ein halbes Dutzend Desktop-Computer, Flachbildschirme, auf eine Lufthansa-Pilotenmütze, zwei Drohnen, drei Richterroben, vier Polizeiuniformen, fünf Gebetsteppiche und zehn Briefmarkenalben. Jede Woche räumt Schreiner hier von hinten ab, und die Kollegen füllen von vorn wieder auf. Seit 20 Jahren.
Doch Moment mal: Wie verliert man eine Beinprothese? Warum vermisst man seine Klimaanlage nicht? Welche Geschichten, welche Schicksale lagern hier auf jedem Regalmeter? Schreiner zieht die Schultern hoch. „Vielleicht haben die einfach zu viel Geld.“ Verlieren sei menschlich, sagt er, da sei er keine Ausnahme. Neulich erst sei ihm sein Schlüsselbund in der Bahn abhanden gekommen. Doch weil er weiß, worauf es ankommt, beschrieb er seinen Verlust so haargenau, dass die Schlüssel binnen Minuten gefunden wurden. Schreiner sieht es jedem nach, mal was zu verlieren – nur abholen oder wenigstens vermissen müsse man die Dinge doch. „Das verstehe ich bis heute nicht“, sagt er, „wir geben uns doch solche Mühe mit den Fundsachen.“
Auch wenn er davon lebt, dass die Dinge nicht mehr abgeholt werden, brächte es ihm großen Frieden, wenn er endlich verstünde, wieso sich manche Leute einfach nicht mehr für sie interessieren.