Kassenkampf
In Deutschlands ältester Kommune teilen sich 84 Menschen ein Girokonto.Ein Blick auf die ökonomische Realität hinter der Utopie.
Bei Simones Einzug waren das 9000 Euro; die hat sie der Gemeinschaft überschrieben. Einzig ihre Kleidung, zwei alte Faltboote und ein E-Piano gehören noch ihr allein. Der Rest verteilt sich als Gemeingut irgendwo zwischen den Werkstätten und Wohnhäusern des 10 000 Quadratmeter großen Gehöfts im beschaulichen Niederkaufungen bei Kassel. Jeden Euro, den sie als Trainerin für gewaltfreie Kommunikation verdient, von Freunden geschenkt bekommt oder erbt, fließt auf das Kommunenkonto. Verliert die Freiberuflerin einen Auftrag, gleicht das die Gemeinschaft aus – bei rund 60 arbeitenden Kommunarden macht Simones Beitrag nur einen Bruchteil aus. Das klingt nach großer Freiheit. Aber wie steht es um die Freiheit beim Griff in die gemeinsame Kasse?
Wenn Simone einen Kaffee in Kassel trinken möchte, geht sie zu Lisa in die Verwaltung, nimmt sich zehn Euro aus der goldenen Besteckschublade, in der die Kommune seit einem Vierteljahrhundert ihr Bargeld lagert, und schreibt ihren Namen samt Verwendungszweck mit Bleistift in die Liste daneben. Sie könnte auch den Namen ihres Nachbarn eintragen oder gar keinen. Aber so funktioniere das Leben in der Kommune nicht, sagt sie.
Freiheit und soziale Kontrolle
Früher, als die Geldschublade noch für jedermann zugänglich im Essensraum stand, fehlten am Ende manchen Jahres einige Tausend Euro. Seit die Kasse in der Verwaltung steht, zu der nur noch Kommunarden, aber keine Gäste mehr unbeobachtet Zutritt haben, hat sich der Fehlbetrag dramatisch reduziert.
Aus dem Kollektivtopf zu stehlen wäre wie sich selbst zu beklauen, sagt sie. An dem gemeinsamen Konto hängt ein gutes Dutzend eigener Betriebe und damit die Arbeitsplätze der meisten Kommunarden.
Simone zählt zu den wenigen „Außenarbeitern“, die den Hof zum Geldverdienen ab und zu verlassen. Sie ist froh, der Gemeinschaft so für ein paar Tage im Monat zu entkommen. „Dadurch kriege ich wieder Lust auf die anderen und kann mich ein bisschen von der sozialen Kontrolle erholen“, sagt sie. Es zehre, ständig unter Beobachtung zu stehen.
Will sie sich für ihr Faltboot ein neues Paddel kaufen, dessen Preis 150 Euro überschreitet, muss sie ihr Vorhaben öffentlich am Schwarzen Brett ankündigen. Wenn das einem Mitbewohner nicht passt, hat er eine Woche Zeit, sich bei ihr zu beschweren. Klare Regeln für diese Verhandlungen gibt es nicht. Eigentlich darf weder Simone gegen den Willen der anderen Geld verprassen, noch dürften ihr die anderen verbieten, das Paddel zu kaufen.
In jedem Fall ist Diplomatie gefragt, und jeder Fall geht anders aus. Als vor einigen Jahren zwei Kommunarden unabhängig voneinander verkündeten, in den Urlaub fliegen zu wollen, regte sich massiver Widerstand. Für viele Bewohner sind Flugreisen ein Sakrileg. Am Ende der Verhandlungen zog einer der beiden Bittsteller seine Reisepläne zurück, die andere blieb dabei und flog in den Urlaub. Heute wohnt nur noch der erste der beiden in der Gemeinschaft.
Als Simone vor sieben Jahren ihr besetztes Haus in Prenzlauer Berg gegen das hessische Hinterland mit Fachwerkhäusern und Stallgeruch eintauschte, ahnte sie, worauf sie sich einließ. Zwar strenge sie die soziale Kontrolle an, unterm Strich sehe sie aber einen Gewinn: „Ich habe keine Bankkarte mehr und kein privates Konto“, sagt sie und blinzelt in die Sonne über der Schreinerei, „um meine Steuern kümmern sich andere – das ist schon toll.“
Dafür nimmt sie in Kauf, sich weniger Dinge leisten zu können. Wie es um ihre Finanzen steht, erfährt sie im Obergeschoss, neben dem Ruhe-Essraum, zu dem Kinder keinen Zutritt haben. Dort hängt an der Pinnwand die Monatsabrechnung der Kommune. Bei Einkünften von 53 038,41 Euro kann sie sich ausrechnen, dass ihr bei 83 Mitbewohnern diesen Monat rechnerisch knapp 640 Euro brutto zustehen. Selbst wenn sie das Geld nur unter den Erwachsenen aufteilt, sind es rund 840 Euro. Zieht sie davon Miete und Nebenkosten ab, bliebe ihr theoretisch nicht viel zum Ausgeben. Aber viel gibt es in Niederkaufungen auch nicht zu kaufen.
Anders sieht es aus, wenn sie in die Stadt geht. „Dann möchte ich schon gern all die schönen Sachen haben, die in den Shoppingparadiesen zu sehen sind“, sagt sie, „aber zum Glück bin ich dort selten und kann hier viele Begehrlichkeiten vergessen.“
Zwar stehe ihr in der Kommune weniger Geld zur Verfügung, dafür sei es mehr wert. Schließlich repariert ihr der Schreiner-Kommunarde den Schrank, der Schlosser-Kommunarde das Fahrrad, der Gärtner-Kommunarde erntet das Gemüse, und der Koch-Kommunarde bereitet es ihr jeden Mittag zu – für all das müsste sie normalerweise bezahlen. „Bei meinem Leben hier brauche ich eigentlich kaum noch Geld.“
Dafür genießt sie einen anderen Luxus: „Volker, machen wir uns hier Gedanken über unseren Stundenlohn?“, fragt sie den bärtigen Mann, der sich mit einer Tasse Kaffee neben sie auf die Holzbank in die Sonne gesetzt hat. Nach einigem Überlegen schüttelt Volker bedächtig den Kopf und sagt: „Nö.“
Lisa aus der Verwaltung nickt. Sie hat früher als wissen-schaftliche Angestellte an der Universität Kassel gearbeitet; ihren Umstieg vom zermürbenden Konkurrenzkampf um eine Hochschulkarriere hin zum Kommunenleben vor einem Jahr hat die Soziologin nicht bereut. „Hier arbeite ich 20, maximal 30 Stunden die Woche“, sagt sie, „das ist für mich Wohlstand.“
Dass sie früher häufig essen gegangen ist und, wenn es später wurde, auch mal ein Taxi gerufen hat, kann sie sich heute nicht mehr leisten. Muss sie auch nicht, weil sie ihre Arbeitszeiten nun selbst bestimmen kann und die Kommunarden jeden Tag für sie kochen. „Übrigens schmeckt das Essen hier auch noch besser, weil fast alles vom eigenen Acker kommt.“
Seit ihrem Einzug kauft sie zaghafter ein und grübelt lange, ob sie das neue Paar Schuhe wirklich braucht. „Ich trage hier mehr Verantwortung“, sagt die 31-Jährige. Schließlich bedient sie sich beim Kommunenkonto am Vermögen aller. Und nicht jeder hier kann selbst für seinen Unterhalt sorgen.
In der Kommune gilt seit der Gründung: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“ Dem Mitbewohner, der nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt ist und nicht mehr in der Schreinerei arbeiten kann, steht ebenso viel aus dem Gemeinschaftstopf zu wie ihr. Lisa sagt: „Ich habe heute eine klarere Antwort auf die Frage, ob ich etwas wirklich brauche, weil ich nicht mehr nur für mich allein verantwortlich bin.“
Mittlerweile haben schon zwei Kommunarden das Rentenalter erreicht. Uli mit dem grauen Rauschebart wohnt seit bald drei Jahrzehnten in der Kommune. Er war dabei, als die Gruppe für eine halbe Million D-Mark den Hof in Hessen kaufte. Seit Jahren beobachtet er, wie sich am Schwarzen Brett die Kaufanträge für Gleitsichtbrillen und Zahnersatz mehren.
Zur Gründerzeit in den Achtzigern, als die Kerngruppe per »Taz«-Annonce Mitstreiter suchte, prägten Sätze wie „Auf dass der Tod uns lebendig findet und das Leben uns nicht tot“ den Ton; die Frage nach einer soliden Altersvorsorge trieb damals keinen um. Das hat sich geändert. Wie Lisa arbeitet Uli in der Verwaltung und betreut dort unter anderem den „Rücklagentopf fürs Alter“ – eine kollektive Rentenkasse, die jeden Monat aus den Einnahmen der Gemeinschaft gespeist wird.
Zwar sind alle Kommune-Mitarbeiter sozialversichert – aber eben nur gerade so. Viele arbeiten als geringfügig Beschäftigte. „Aber was heißt schon eine Anstellung von 451 Euro bei gemeinsamer Ökonomie?“, fragt Uli. Der gesetzliche Rentenanspruch fällt dennoch mager aus. Seit einigen Jahren errechnet das Verwaltungskollektiv deshalb für jeden Bewohner die erwartete Rente. Ziel ist, dass jeder 65-Jährige auf mindestens 850 Euro kommt – der Rententopf stockt auf, was zu diesem Betrag fehlt.
Vorausgesetzt, das kollektive Rücklagensystem hat bis dahin überlebt. Uli betont, dass es sich um eine „Absichtserklärung ohne Rechtsanspruch“ handle. Bleibt der Kommunarde als Rentner in der Gemeinschaft, ändert sich für ihn nichts. Wie zuvor sein Gehalt, fließt nun seine Rente in die Kommunenkasse. Aus welchem Topf diese bezahlt wird, spielt im Alltag keine Rolle. Verlässt er hingegen die Gemeinschaft, bekommt er seinen Rentenanteil monatlich überwiesen.
Schlechtes Gewissen oder Neid
„Je älter die Mitbewohner werden, desto schwerer fällt der Neuanfang draußen“, sagt Uli. Um im Leben ohne Kommunenkonto wieder auf die Füße zu kommen, legt jeder beim Einzug in einer Art Ehevertrag fest, wie viel Geld er beim Auszug zurückbekommt. Im Schnitt sind das zwischen fünf- und zehntausend Euro; egal, ob er einst hoch verschuldet oder steinreich eingezogen ist. Verändern sich die Lebensbedingungen, kann der Vertrag angepasst werden. Ein heikles Thema. Zwar konnten bislang alle Konflikte über diese Summe beigelegt werden, Streit habe es deshalb aber immer wieder gegeben, sagt Uli.
Genau wie über die Arbeitsmoral. Gerade weil jeder Kommunarde sein eigener Chef ist, liegen die Vorstellungen von der Leistung des einzelnen mitunter weit auseinander. Mancher Mitbewohner wirft sich voller Eifer in die Arbeit und beschwert sich am Ende des Monats über den vermeintlichen Müßiggang der anderen. Uli kennt dieses Muster seit den Achtzigern und rät dem Eiferer in solchen Fällen, selbst kürzerzutreten. Er sagt dann: „Es zwingt dich doch keiner, so viel zu tun.“
Doch, entgegnen ihm die Eiferer dann. Schließlich gebe es jetzt schon Monate, in denen die Ausgaben die Einnahmen übersteigen und die Zahlung an den Rentenfonds ausgesetzt werden muss. Wir müssen auf dem Hof besser wirtschaften, rufen dann die einen, es kann nicht sein, dass eine Handvoll Kommunarden im Außendienst ein Drittel unserer Einnahmen heimbringen. Wir sind aber nicht die da draußen, rufen dann die anderen, wenn euch das Geld nicht reicht, dann gebt doch weniger aus.
Auch dieses Muster kennt Uli seit Jahrzehnten. Er ist Teil davon. Sein Schluss lautet: Wer weniger auf die anderen schaut, lebt selbst besser. Die Kosten der Freiheit vom eigenen Konto bezahlen viele Kommunarden mit dem Gefühl, der Gemeinschaft etwas schuldig zu sein. Simone sagt: „Ich habe manches Mal Angst um mein Einkommen. Als Selbstständige möchte ich ausreichend in die Kommune einbringen, das macht mir manchmal mehr Druck, als mir lieb ist.“
Das gilt auch beim heiklen Griff in die Gemeinschaftskasse. Hinter vorgehaltener Hand unterscheidet mancher Kommunarde zwei Typen im Umgang mit dem Gruppengeld: jene, die sich mit schlechtem Gewissen am Topf bedienen, und jene, die sich neidisch enthalten. Ein unbefangenes Verhältnis zum Kommunentopf sei ein Drahtseilakt, sagen sie.
Einer der wenigen, der dabei nicht ins Straucheln zu geraten scheint, ist Dieter. Sein Verhältnis zur goldenen Besteckschublade mit dem Bargeld klingt unbeschwert: „Ich gehe da hin und hol’s mir raus.“ Obwohl seine Ausgaben nach eigenen Schätzungen im oberen Drittel des Durchschnitts liegen, hat er kein schlechtes Gewissen. Schließlich leiste er, wie jeder, seinen Dienst für die Gemeinschaft. „Ich bringe mich hier ein und nehme mir, was ich brauche“, lautet seine einfache Rechnung.
In die Kommune ist er vor sieben Jahren gezogen, „um dem ewigen Hamsterrad zu entkommen“, wie er sagt. Als Koch hat er damals 60 Stunden pro Woche gearbeitet – Montag bis Sonntag. Heute bereitet er die Mahlzeiten für die Kommunarden sowie für die angeschlossene Altenpflege und Kita zu. Am Wochenende hat er frei, seine Arbeitswoche hat 30 Stunden. Wenn er Urlaub will, spricht er sich mit seinen Kollegen ab und geht. Zwar gönnt sich der bald 60-Jährige nun keine teuren Club-Aufenthalte mehr wie früher, sondern fährt stattdessen mit der Bahn in eine Ferienwohnung in der Region – seinen Urlaub aber lässt er sich nicht nehmen, auch wenn mancher Kommunarde darin einen unsolidarischen Luxus sieht.
Diese Leichtigkeit im Umgang mit dem Gemeinschaftseigentum ist nur wenigen gegeben. Viele bezahlen ihre Freiheit mit einem schlechten Gewissen. Simone sagt: „Obwohl sich mein Leben jetzt sinnvoller anfühlt, bin ich hier nicht freier als draußen – ich bin anders unfrei.“
Die Kommune
Die Gemeinschaft aus 64 Erwachsenen und 21 Kindern versteht sich als „lebendiges Experiment eines alternativen Lebensstils“. Ihren 10 000 Quadratmeter großen Hof im nordhessischen Niederkaufungen haben sie im Winter 1986 bezogen. Sie streben nach einem sozial-ökologischen Miteinander ohne Hierarchien.
Dorf im Dorf
Die Kommunarden führen ein gutes Dutzend eigener Betriebe. Darunter eine Schlosserei, eine Schreinerei, ein Hofladen, ein Bauplanungsbüro und eine Agentur für gewaltfreie Kommunikation. Dazu kommen die Kommunenverwaltung, ein Tagungshaus, eine Kindertagesstätte mit 18 und eine Tagespflege mit 15 Plätzen. Um die Verpflegung der Mitbewohner und ihrer Betriebe kümmert sich das vierköpfige Küchenkollektiv. Viehzucht, Obst- und Gemüseanbau haben eigene Flächen außerhalb.
Jeder darf mal
Wer sich in der Gemeinschaft berufen fühlt, darf einen eigenen Betrieb eröffnen. Dieser muss mit den Grundsätzen der Gemeinschaft übereinstimmen und sollte schwarze Zahlen schreiben.
Gute Nachbarschaft
Die Zeiten des gegenseitigen Argwohns zwischen Dorf und Kommune sind Geschichte. Die Alteingesessenen bringen ihre Kinder in die Kita der Kommune und ihre Senioren zur Tagespflege. Der Hofladen ist zu einem wichtigen Treffpunkt im Dorf geworden. Zwar kann er im Preiskampf mit dem nahen Supermarkt nur schwer bestehen, doch neben den finanziellen Erträgen rechnen die Kommunarden auch das Soziale in die Bilanz.