„Alle finden Tinder scheiße“


Wieso viele dennoch nicht von der App loskommen und wie eine menschenfreundliche Alternative aussehen könnte, erklärt die Sozialpsychologin Johanna Degen.
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Januar 2023


Die Sozialpsychologin Johanna Degen, 36, leitet seit 2019 das Forschungsprojekt „Tinder: Profiling the self“ an der Europa-Universität Flensburg. Daneben arbeitet sie als Paartherapeutin und hat das Forschungs- und Bildungsprojekt „Teach Love“ gegründet, das sich an Lehrerinnen und Lehrer richtet, die Sexualkunde unterrichten.

Als Vater des modernen Online-Datings gilt die App Grindr aus dem Jahr 2009, die Männern Dates mit Männern in der Umgebung vermittelt. Drei Jahre später erweiterte Tinder das Prinzip auf die andere Hälfte der Gesellschaft: Frauen. Mit durchschlagendem Erfolg. Dating wurde durch die App zum Shopping-Erlebnis, bei dem man seine potenziellen Partner mal eben auf dem Weg zur Arbeit ordert, statt sich die Nächte in verrauchten Bars um die Ohren zu schlagen. Das machte die Suche effizienter – und verrauchte Bars öder. Dazu kommt, dass die Shopping-Logik dazu verleitet, mehr zu bestellen, als man braucht. Schließlich sind auch bei Dating-Apps die Retouren kostenlos.

Weltweit sind 75 Millionen Menschen monatlich auf Tinder aktiv, 11 Millionen bezahlen für Zusatzfunktionen Geld. Reizvoll für viele ist das Swipen, das Annehmen oder Ablehnen eines vorgeschlagenen Kontaktes durch das Wischen nach links oder rechts. Laut Firmenmythos kam dem Gründer Jonathan Badeen die Idee nach dem Duschen, als er das Kondenswasser auf seinem Badezimmerspiegel per Swipe entfernte. Diese intuitive wie beiläufige Geste übertrug er auf die App, damit sich die Kundschaft dort heimisch fühlt und verweilt.

Laut einer Erhebung des Dating-Portals Badoo verbringen Nutzerinnen und Nutzer durchschnittlich 90 Minuten am Tag mit Dating-Apps. Die unregelmäßigen, aber stetigen Erfolgserlebnisse sowie die große Auswahl an potenziellen Partnern bindet sie an die Plattform. Zum Mutterkonzern Match Group gehören neben Tinder, Hinge und OKCupid noch ein paar Dutzend weiterer digitaler Anwendungen zur Partnersuche. Im Jahr 2021 nahm die Online-Dating-Branche weltweit rund 5,7 Milliarden Euro ein, gut 3 Milliarden davon gingen an die Match Group.

brand eins: Tinder feierte jüngst zehnten Geburtstag – in App-Jahren ist das kurz vorm Rentenalter. Wer nutzt heute noch Tinder

Johanna Degen: Von wegen Rente. Allein in Deutschland gibt es mehr als drei Millionen Nutzerinnen und Nutzer, in allen Altersgruppen. 56 Prozent aller Beziehungen, die hierzulande in den vergangenen fünf Jahren entstanden sind, kommen aus dem Online-Dating – 76 Prozent davon durch Tinder. Das ist gigantisch.

Aber so richtig beliebt ist die App nicht mehr …

Das stimmt, seit zwei Jahren verschlechtert sich das Image dramatisch. Wissenschaftlich formuliert, äußern sich die Nutzer in emotional geladener Sprache über die App. Etwas direkter ausgedrückt: Alle finden Tinder scheiße.

Warum nutzen sie die App trotzdem?

Weil sie keine Alternativen sehen. Zum einen ist der öffentliche Raum politisch so aufgeladen, dass sich viele nur noch im Online-Dating sicher fühlen. Zum anderen gehen sie zu Tinder, weil alle da sind.

Was frustriert die Leute an Tinder?

Es kippt, wenn sie merken, dass Tinder kein Wohltätigkeitsverein ist, sondern eine Firma, die Profit aus Einsamkeit schlägt.

Diese Erkenntnis kann doch nicht überraschend sein.

Sie fühlt sich aber trotzdem nicht schön an. Wenn ich als 38-Jährige verzweifelt bin, weil ich noch kein Kind habe, und sehe, dass jemand aus dieser Not ein Geschäft macht, indem er mir per Algorithmus ein paar Brotkrumen zuschmeißt, damit ich am Ball bleibe, und mich zur Kasse bittet, sobald ich mehr will, dann macht das sauer. Wir sprechen in der Forschung von Tinder Fatigue.

Wie erfolgreich sind online angebahnte Beziehungen?

Es gibt keinen Unterschied zwischen online oder offline zustande gekommenen Beziehungen. Weder in der Qualität noch in der Dauer. Die spezifische Tinder-Beziehung gibt es nicht.

Aber wir haben doch heute eine grundlegend andere Dating-Kultur als noch vor zehn Jahren …

Ja, aber das betrifft alle Beziehungen. Online-Dating hat unser analoges Verhalten beeinflusst. Das vorherrschende Beziehungsmuster ist die serielle Monogamie, das Aneinanderreihen von Phasen der Verliebtheit. Uns fehlt aber ein Konzept für die Beziehung danach. Da kommen Leute in die Therapie und sagen: Wir haben nach vier Jahren gar keine Leidenschaft mehr in der Ehe. Ja, warum denn auch? Leidenschaft hält vielleicht zwei Jahre. Vielen reicht auch dreimal Sex im Monat nicht, dabei ist das ganz normal nach zwei Jahren. Das wird aber von vielen als schlechte Beziehung bewertet und dann beendet.

Das klingt nach einer Folge der Online-Dating-Logik, nach der mein Ersatz-Partner immer nur wenige Klicks entfernt ist?

Das kommt zum Großteil aus Filmen und Social Media. Influencer, die sich in ihren Villen zeigen, mit karierter Schürze, selbst gebackenem Kürbiskuchen und Kernfamilie, stets frisch verliebt. Das erinnert direkt an die Sechzigerjahre. Aber dem eifern wir nach. Eine ökonomisch eingefärbte, medial konstruierte Form von Verliebtheit. Tinder macht es zwar einfacher, seriell zu lieben, aber vor allem liegt es daran, dass wir kaum Erzählungen für eine hart erarbeitete Liebe mit Höhen und Tiefen haben. Viele denken: Mir geht’s seit drei Wochen blöd, ich mach’ Schluss. Ich bin ja nicht moralisch, aber wer so denkt und handelt, sollte sich auch von der Idee der Liebe des Lebens verabschieden.

Wie sieht das typische Tinder-Date aus?

Es ist geprägt durch Unverbindlichkeit, Beschleunigung, Parallelität. Das Date muss am besten heute zustande kommen, kann aber noch in der letzten Minute abgesagt werden, man trifft mehrere Leute pro Woche, vielleicht sogar zwei am selben Tag. So etwas war früher verpönt, heute ist das normal. Obwohl es verletzend wirkt. Auch wollen wir weder Zeit noch Geld oder Emotionen investieren. Heute sagt man: Lass mal zusammen zum Baumarkt gehen, dann habe ich wenigstens das erledigt.

Ein Date im Baumarkt? Das klingt nach einem Therapeutenwitz.

Es gibt noch mehr erstaunliche Beispiele: Einer war immer joggen mit seinen Dates. Der hat sich so zum Halbmarathon hochtrainiert. Eine Frau hat ihre Dates immer ins Nagelstudio bestellt, weil sie keine Lust hatte, sich mit dem Personal zu unterhalten. In Frankfurt hatte ich mal einen, der hatte jeden Donnerstag eine anderthalbstündige Taxifahrt, da durften seine Dates dann mitfahren und ihn kennenlernen – immerhin hat er das Taxi zurück auch bezahlt. Wir leben im Zeitalter der Super-Effizienz.

Wirkt sich das auch auf den Tinder-Sex aus?

Ja. Hier rangiert Sexualität vor Intimität. Man versucht, dem Eindruck vom Profilfoto zu entsprechen. Das führt dazu, dass die Leute zum Beispiel nicht schwitzen wollen. Manche Frauen sagen mir, sie wollen keinen Orgasmus haben, weil ihr Gesicht dann unvorteilhaft aussieht. Wie absurd diese Art Sex ist, kann man sich vielleicht vorstellen.

Und das stört die Leute nicht?

Doch. Die sagen dann: Ich hatte richtig blöden Sex. Aber sie verstehen nicht wieso. Dann heißt es, Tinder sei scheiße. Aber eigentlich – jetzt mal unter uns – sind wir scheiße, wenn wir uns so verhalten. Es wäre doch so einfach: Behandle die anderen so, wie du selbst behandelt werden willst. Ein Dating-Imperativ.

Hat Tinder auch das Schlussmachverhalten verändert?

Ghosting, der Abbruch von Beziehungen ohne Erklärung, hat schon zugenommen. Das Design der App macht einem das sehr einfach. Das hat sich etabliert.

Welches Verhalten bewirkt die App noch? Was will Tinder?

Tinder will nur das eine: dass man online ist. Damit verdienen die ihr Geld. Der Rest ist denen lax. Würden wir da lange romantische Gespräche führen, dann würden sie ihre Werbung eben im Chat schalten und Geld fürs Tippen verlangen. User versuchen, die App schlau für sich zu nutzen, und die App passt sich entsprechend an. Das ist ein Aushandlungsprozess. Wir nennen das reflexive Mediatisierung.

Warum ist genau diese App damit so erfolgreich?

Weil sie so effizient ist. Wir nehmen unsere Zeit als knappe Ressource wahr und wollen es nicht riskieren, im Park zu sitzen, bis irgendwann einer vorbeikommt, der uns gefällt. Tinder bedient das: Ich swipe so lange, bis ich ein Date habe, zur Sicherheit am besten zwei. Und dann investiere ich nur so viel, bis ich weiß, ob daraus was wird. Das ist ein sinnvolles Verhalten in Anbetracht unserer Wahrnehmung der Lebensrealität.

Spart das Wischen tatsächlich Zeit?

Im Schnitt werden 500 Swipes pro Sitzung aneinandergereiht. Das ist sehr viel. Ab 100 kostet es Geld. Das kann zu suchtähnlichem Verhalten führen. Und es stresst uns. Die Gruppe Fünfzig plus geht da klüger vor, die wischt nur, bis sie ein Match hat. Erst wenn daraus nichts wird, geht’s weiter. Die Jungen swipen und swipen, bis sie nicht mehr können, schicken aus Zeitdruck nur Standardnachrichten und erleben dann beim Date eine Enttäuschung.

Wenn ich meine große Liebe auf einer Plattform suche, die so aufgebaut ist, dass ich zurückkommen soll, ist das nicht wie eine Werkstatt, die bei der Reparatur meines Autos stets was Neues kaputt macht? Warum lassen wir uns das online bieten?

Na ja, wir wissen auch alle, dass technische Geräte oft eine Sollbruchstelle haben. Was machen wir dagegen? Nix. Ich bin kritische Theoretikerin, ich sage: Macht kaputt, was euch kaputt macht! Wehrt euch! Swiped langsam, trefft wenige, verletzt euch nicht gegenseitig!

Ist das Tinder-Design so raffiniert, dass wir die Interaktion mit dem Interface anregender empfinden als das eigentliche Date?

Dazu müssen wir in die Neurophysiologie schauen. Swipen und matchen ist Gamification. Das führt zum Ausstoß von Dopamin und Adrenalin, einer kurzfristigen Belohnung im Gehirn. Eine stabile Beziehung dagegen führt uns Oxytocin zu, ein Bindungshormon. Das macht auch glücklich – aber es kickt nicht. Wenn wir uns immer wieder für den kleinen Kick entscheiden, fahren wir emotional Achterbahn, fühlen uns lebendig. Deswegen gehen wir immer wieder zurück in die App, obwohl wir dort verletzt wurden. Dem vertrauten Partner tief in die Augen zu schauen kickt halt nicht so.

Die App-Logik macht Liebe zum Shopping-Erlebnis …

… und doch suchen alle dort die Ausnahme. Für die meisten ist es schon ein Makel, wenn jemand auf Tinder ist. Obwohl sie selbst dort sind. Sie werten die anderen ab und suchen die eine Person, die heute nur zufällig vorbeischaut.

Nehmen sich die User selbst als Konsumgut war?

Na sicher. Aber das beschränkt sich nicht auf diese Sphäre. Wir behaupten auch im Job-Interview, dass wir fließend Französisch sprechen, und haben dann eine Riesenangst aufzufliegen. Beim Dating schreiben wir, dass wir zehn Kilo weniger wiegen oder Ärztin sind statt Medizinstudentin. Wir entscheiden uns für den unmittelbaren Erfolg, weil wir es nicht aushalten, wenige Matches zu haben.

Welche Rolle spielt das Swipen? Verdrängt das horizontale Wischen die Tiefendimension?

Texte werden auf Tinder nicht gelesen. Das kann man sich sparen. Wir entscheiden innerhalb einer Sekunde nach der visuellen Bestätigung von Sehgewohnheiten. Andersartigkeit wird sanktioniert. Das ist das Gegenmodell zur Kunst, wo wir mit ästhetischen Brüchen arbeiten und uns fürs Betrachten Zeit nehmen. Daher werden die Profil-Bilder immer gleichförmiger, es gibt immer weniger Archetypen.

Welche sind das?

Die kennen Sie alle. Da ist erst mal das Selfie. Dann das Reisefoto mit Hinweisen auf den Körperumfang: Mädel in Hotpants vor Springbrunnen in Amsterdam oder Typ auf Elefant im Dschungel. Dann das informative Bild, ich zeige meinen Beruf: die Barkeeperin hinter der Bar, der Tänzer beim Tanzen. Dann der scheinbar zufällige Schnappschuss in Denkerpose. Die Ironie als eigene Bild-Kategorie ist leider verschwunden, das finde ich schade. Ich vermisse eine humorvolle Dating-App.

Führt Online-Dating zu Einsamkeit?

Schwer, das kausal nachzuweisen. Aber ich sage mal so, Einsamkeit nimmt zu. Auch weil wir uns im öffentlichen Raum weniger annähern. Wer setzt sich heute noch zu der einsamen Frau auf der Parkbank? Das sollten wir ernst nehmen. Empfundene Einsamkeit ist statistisch genauso schädlich wie 25 Zigaretten am Tag. Wir ziehen uns in die parasozialen, also digital einseitigen Beziehungen zurück. Mit erstaunlichen Folgen.

Was heißt das?

Konkret heißt das, dass wir, wenn das eigene Baby schreit, schnell noch eine Story fertig anschauen. Oder dass wir morgens erst zum Handy greifen, bevor wir unseren Schatz küssen. Dass wir uns von Tiktok in den Schlaf wiegen lassen. Das werden echte Bindungen. Unser Lieblings-Influencer triggert uns wie eine analoge romantische Beziehung! Wir projizieren Liebe, Bindung und Zuneigung auf Beziehungen mit Leuten, die gar nicht wissen, dass es uns gibt. Und das macht uns dann einsam.

Viele beschweren sich, dass der Algorithmus ihnen nur langweilige Menschen zuführt. Was ist da dran?

Wer andere langweilig findet, der fragt falsch. Jeder ist irgendwie spannend. People are beautiful!

In Ihrer Forschung beschreiben Sie auch die kleine Gruppe der glücklichen Online-Dater. Was machen die anders?

Die sind auch mal nicht verfügbar, swipen nicht 500-mal am Tag, treffen sich nicht gleich. Das sind Menschen, die können bei der Oma im Hospiz sitzen und müssen nicht nebenher tindern. Die gestalten ihre Dates aufwendiger und drehen die Logik um. Unbewusst zwar, aber schlau. Man investiert wieder was, muss warten, Hürden überwinden.

Wieso entkommen die den Fängen des App-Designs?

Weil sie stoisch sind. Und vielleicht weil sie ein gutes Selbstwertgefühl haben. Möglicherweise sind da auch ein paar Theoretiker dabei, ich glaube aber eher nicht. Es hängt jedenfalls nicht am Bildungsgrad. Ich kenne genug Philosophen, die swipen wie verrückt.

Wie würden Sie eine Dating-App gestalten, um jenen zu helfen, die weniger stoisch sind?

Ganz radikal – nur ein Swipe pro Woche! Mehr nicht. Ich würde die Geschwindigkeit rausnehmen. Dann überlegt man sich halt seinen einen Swipe die Woche. Der wird dadurch aufgewertet, so einfach ist es doch in der Ökonomie – Verknappung. Ich bezweifle aber, dass die Leute das mitmachen würden.

Auf welche App hoffen Sie?

Es gibt immer wieder welche, die versprechen, alles besser zu machen. Hinge wirbt damit, langfristige Beziehungen anzubahnen. Die App, die entwickelt wurde, um gelöscht zu werden – aber das ist deren Marketing-Sprech. Oder Lex, die sich ans queere Milieu richtet, da soll der Ton wertschätzender sein. Aber der Kapitalismus verleibt sich alles ein, solange wir ihn lassen. Moral, Gleichheit, Queerness – egal. Um das zu ändern, müssen wir nicht bei einer Dating-App anfangen. Solange Liebe kapitalisiert wird, ist die nächste technische Antwort nicht die Lösung. Schauen Sie sich doch um, wir erleben die totale Vereinzelung. Die Alten sterben allein, die Jungen swipen – Schluss damit!

Aber wie?

Es ist immer Platz für die eigene Entscheidung. Fürs humanistische Dating. Ich kann vom anderen das Beste erwarten, ich kann mich an höheren Werten orientieren. Ich sollte nicht in den Baumarkt gehen mit meinem Date!

Merkwürdig, dass man das sagen muss.

Ja, aber es ist so. Schreiben Sie das. Ich schreibe es auch, aber Sie haben ein breiteres Publilum.