Der Aufräumer
Ein altes Problem
Der 33-Jährige hat sich des informellen Sektors angenommen. Auch 73 Jahre nach der Unabhängigkeit und 29 Jahre nach der schrittweisen Öffnung der Wirtschaft sind in Indien rund 90 Prozent der Berufstätigen informell beschäftigt. Das heißt: 9 von 10 Menschen haben weder einen Arbeitsvertrag noch Anspruch auf Mindestlohn, Arbeitsschutz oder Urlaub. Hinter der unpersönlichen Volkswirtschaftsvokabel steht das Schicksal von rund 450 Millionen Menschen – das entspricht der kompletten Einwohnerschaft der Europäischen Union ohne Spanien. Aber was bedeutet das für den Einzelnen?
Stellen Sie sich vor, Sie sind ein indischer Solo-Selbstständiger. Sagen wir, ein Klimaanlagentechniker aus Haryana, einem Bundesstaat, in dem jeder Vierte nicht lesen kann und fast ebenso viele arbeitslos sind. Sie haben mit 16 die Schule verlassen und alle notwendigen Handgriffe vom Bruder eines angeheirateten Onkels gelernt. Da es in Ihrem Dorf kaum Klimaanlagen gibt, ziehen Sie nach Delhi. Dorthin, wo die Politiker mit ihren schicken Autos wohnen und die Luft im Winter gelb ist vom Smog und vom Wachstum und von der Hoffnung auf Reichtum.
Ihr einziger Zugang zur Kundschaft ist ein Arbeitsvermittler, der Ihnen ab und an einen Auftrag verschafft und dafür die Hälfte Ihres Lohns behält. Wenn er einen schlechten Tag hat, auch mehr. Am Ende des Monats bleiben Ihnen umgerechnet etwa 150 Euro, das ist auch in Indien fast nichts. Damit hängen Sie am untersten Rand der unteren Mittelschicht fest. Ohne Hoffnung auf Besserung. Wenn Sie einen Vertrag fordern oder sich beschweren, lacht Ihr Vermittler Sie aus; wenn Sie versuchen, ihn zu umgehen, lässt er Ihnen die Knochen brechen oder – schlimmer noch – ersetzt Sie mit dem nächsten Arbeitswilligen aus Ihrem Dorf. Oder aus dem Dorf daneben. Oder aus dem Dorf daneben. Es gibt viele Dörfer in Indien. Ihr Vermittler sieht keinen Grund, Ihre Situation zu verbessern.
Und seine digitale Lösung
„Wenn das Problem strukturell ist, dann schaffen wir den Vermittler eben ab“, sagt Abhiraj Bhal. Das ist eines der Ziele seiner Firma Urbanclap, die er im November 2014 mit zwei Freunden gegründet hat. Wie es sich für Start-ups dieser Tage gehört, ist es eine Plattform. Sie übernimmt die Arbeit des Vermittlers und schlägt die Brücke vom Kunden mit defekter Klimaanlage zum Techniker vom Dorf. Im Schnitt vermittelt die Software alle zwei Sekunden ein Match – eine Dating-Plattform für Haushaltsdienstleistungen. Ein Tinder ohne Sex, aber mit Reparaturen. Das klingt nach einer sanften Transformation. Da der Dienst aber so rasant wächst, gleicht seine Wirkung eher einer mächtigen Axt, die eine tiefe Schneise in den informellen Wildwuchs schlägt und nichts als gleichförmig gesägtes Brennholz hinterlässt. Jeder Scheit ein Datenpäckchen, normiert, vergleichbar, legal.
Der ehemalige Unternehmensberater Bhal, der zu seinen Terminen trotz des unberechenbaren Verkehrs in Delhi stets auf die Minute pünktlich kommt, erklärt seine Firma aus Marketinggründen lieber nicht zum Sektor-Killer, sondern zum Segen für die Kundschaft. Denn ebenso wie der prototypische Klimaanlagentechniker aus Haryana sind auch die Kunden von Vermittlern abhängig. Und da sich im informellen Sektor kaum einer um Qualifizierungsstandards schert, kann das nervig bis tödlich sein. Ein eilig gerufener Elektriker bei Stromausfall kann ein Kenner seines Fachs sein, er kann aber auch einfach die durchgebrannte Sicherung mit einem Nagel überbrücken und gehen. Als Kunde weiß man das erst hinterher, eine Beschwerdestelle gibt es nicht.
Diese Qualitätslücke haben die Gründer erkannt und besetzt. Wer als Selbstständiger Teil der Plattform werden will, wird eingehend geprüft. Kann er zeigen, dass er sein Handwerk beherrscht und keine kriminelle Vergangenheit, dafür aber ein Mindestmaß an Manieren besitzt, wird er zur Weiterbildung eingeladen. Diese dauert zwischen fünf Tagen und drei Monaten. Im Schnitt sind es zwei Wochen, in denen es neben fachlichen Standards auch um das professionelle Auftreten geht: Der Handwerker hat höflich und verlässlich zu sein, muss sich tadellos kleiden, mit einer gepflegten Rasur aufwarten und das Ausspucken des rotbraunen Betelsaftes unterlassen.
Wer all dies besteht, wird in die freie Mitarbeiterschaft aufgenommen, bekommt Aufträge vermittelt und wird von den Kunden nach dem Dienst bewertet. Mit jedem Job erhält Urbanclap ein schärferes Bild von der Qualität ihres Neuzugangs. Fällt ein Handwerker unter eine bestimmte Schwelle, schlägt das System Alarm. Fällt er weiter ab, muss er zur Nachschulung. Wer auch dann nicht aufsteigt, wird für ein Jahr gesperrt und muss sich von Neuem bewerben.
Bhal, der sonst ernst und sachlich spricht, wirkt fast ausgelassen, wenn er von den Regeln seines Systems erzählt, ein gläserner Palast, in dem sich Transparenz, Fairness und Strenge treffen. Das indische Arbeitsrecht wirkt dagegen wie eine Armen- siedlung, die längst sich selbst überlassen worden ist und in der jeder Bewohner sein Haus auf das Haus des anderen baut, das er als Stütze braucht und es damit fast zum Einsturz bringt. Dieses System sei zu marode, um zu funktionieren, und zu verschachtelt, um es zu vereinfachen, sagt Bhal. Wer seinen klaren, harten Worten zuhört, gewinnt schnell den Eindruck, dass hier einer ganz genau weiß, was er will.
Sein größter Gegner ist die Bürokratie. Bhal sagt dazu: „Ich will nicht immer machen, was nach den Regeln ist. Ich will das machen, was ich für das Richtige halte. Es gab Zeiten, da war Sklaverei laut Regelbuch erlaubt – falsch war es dennoch. Ich brauche einen starken Kompass in mir.“
Auch auf die Gefahr hin, dass auf diesem Kompass zwischen dem Missachten einer unsinnigen Regel und dem gezielten Bruch des Arbeitnehmerschutzes zur Profitmaximierung nur wenige Grad liegen.
„Je größer die Firma wird, desto mehr wird sie ausgebremst. Das endet oft in Stagnation. Warum kommt Indien nicht voran? Weil so viele Entscheidungen und Reformen von der Zustimmung der Regierung abhängen. Dahinter steckt zwar guter Wille, aber der allein reicht nicht. Wichtig ist auch der Verstand“, sagt Bhal.
Ein lohnendes Geschäft
Durch die Bewertungen der zuvor geleisteten Arbeit und die unsichtbare harte Hand seiner Software können sich die Kunden zum ersten Mal auf die Handwerksqualität eines Unbekannten in Indien verlassen. Um Betrug zu verhindern, muss der Anbieter zum Dienstantritt ein Selfie vom Einsatzort an die Zentrale schicken. Die prüft, ob das Gesicht zum angemeldeten Benutzer gehört. Das Weitervermitteln eines Auftrags ist streng verboten. Denn Erfahrungen bei Taxi-Dienstleistern wie Uber oder Ola haben gezeigt, dass sich überproportional häufig jene Fahrer danebenbenehmen oder kriminell werden, die im Auftrag eines Dritten fahren. Die also nicht selbst beim Anbieter angemeldet sind, sondern mit der Identität eines Bekannten oder Verwandten unterwegs sind und somit weniger zu verlieren haben. Das wollen sie bei Urbanclap verhindern. „Unsere Waffe ist die Statistik. Wir haben Unmengen an Daten – und wir nutzen sie sehr gewissenhaft“, sagt Bhal mit einem Blick wie ein schmerzhafter Händedruck.
Die Selbstständigen können ihre Dienste im Gegenzug eigenständig anbieten und sich auf geregelte Arbeitsverhältnisse verlassen. Urbanclap schließt mit jedem Anbieter einen Vertrag, der auch das Arbeiten jenseits der Plattform erlaubt; obwohl das kaum einer tut, da die Bedingungen nirgendwo so gut sind. Neben dem Zugang zur Kundschaft hilft die Firma bei der Steuererklärung und – da die Zahlung aus Sicherheitsgründen nur online erfolgt – beim Eröffnen eines Bankkontos. Urbanclap stellt die Arbeitskleidung und bietet Zugang zu Material und Werkzeug unter Marktpreis. Alle Weiterbildun- gen sind kostenlos, der Verdienst liegt im Schnitt beim Doppelten des vorherigen Einkommens.
Das liegt zum einen daran, dass die Software – im Unterschied zum menschlichen Vermittler – nicht schlafen muss und sich die Auslastung durch den Zugriff auf Millionen von Kunden erheblich verbessert. Kommen die Arbeiter im Schnitt vorher auf eine 20- bis 25-Stundenwoche, sind mit Urbanclap 40 bis 50 Stunden möglich. Was für die Work-Life-Balance-Fans der westlichen Industrieländer wie ein Fluch klingt, ist für einen in die Mittelschicht strebenden Selbstständigen im Schwellenland Indien ein Segen.
Statt der üblichen 50 Prozent behält Urbanclap für die Vermittlung 20 Prozent ein. Der Selbstständige kann also mehr Stunden zu einem höheren Lohn arbeiten, von dem er weniger abgeben muss. Da gibt es nicht viel abzuwägen, entsprechend lang ist die Warteliste. Jeden Monat nimmt die Firma rund 3000 neue Dienstleister auf, die in mehr als 100 Kursen ausgebildet werden. Urbanclap ist derzeit in 18 indischen Städten aktiv, außerdem in Dubai und Abu Dhabi und seit Anfang 2020 auch in Singapur. Laut Plan der Gründer sollen jedes Jahr acht Städte dazukommen.
Überforderte Politik
Der Politik seien die Probleme seit Jahrzehnten bekannt, sagt Bhal, geändert habe keine der Parteien etwas. Zwar gebe es nun ein paar Reformen, und man sei im Grunde auf dem richtigen Weg, aber das genüge nicht. „Was wir jetzt brauchen, sind ein schlanker Staat und eine starke Privatwirtschaft. Anders können wir das nicht mehr schaffen.“
Diese Forderung ist umstritten. Wie im Prinzip jedes politische Wort in Indien dieser Tage. Das Land ist tief gespalten zwischen Freunden und Feinden der regierenden Hindu-Nationalisten unter Narendra Modi. Zu deren neuem Kurs zählen erfolgreiche Reformen, die Indien innerhalb von zwei Jahren im Weltbank-Rating zur Unternehmensfreundlichkeit um 37 Plätze nach oben geschoben haben. Der aktuelle Listenplatz 63 (von 190) ist noch keine Spitzenposition, sondern liegt zwischen Saudi-Arabien und der Ukraine. Aber er ist eine enorme Verbesserung, die selbst Kritiker anerkennen.
„Indien ist ökonomisch fast am Ziel – aber die Betonung liegt auf fast! Unsere Wirtschaft ist seit Jahrzehnten in beständiger Erwartung und kommt doch nie ans Ziel“, sagt Ashish Kulkarni. Er ist Assistenzprofessor am Gokhale Institute of Politics and Economics in Pune, einem der ältesten Institute für Wirtschaftswissenschaften in Indien. Mit sanfter Stimme und beruhigenden Gesten redet er den Zustand der indischen Wirtschaft in Grund und Boden. Der allgegenwärtige informelle Sektor sei eine Zumutung für Arbeitnehmer, Kunden und letztlich auch den Staat. Ihm fehle damit jeglicher Zugriff, weshalb er sich bei einem Großteil seiner Landsleute mit der indirekten Besteuerung – beispielsweise von Verbrauchsgütern – begnügen muss.
Für den Ökonomen Kulkarni ist Urbanclap eine sinnvolle Antwort auf den gegenwärtigen Zustand – aber keine dauerhafte Lösung. Sicher, die Plattform nutze vielen Anbietern und Kunden. Doch auch wenn man den konservativsten Berechnungen folgt, drängen in den kommenden fünf Jahren mindestens 30 Millionen Menschen auf den Arbeitsmarkt. Dazu kommen noch mal mindestens ebenso viele Menschen, die heute bereits eine Arbeit suchen.
Kulkarni selbst nutzt Urbanclap seit Jahren. Die Plattform habe das Leben aller Beteiligten verbessert. Die Universallösung für Indiens Wirtschaft aber könne dies nicht sein, sagt er. „Schauen wir uns doch die Zahlen an. Für heute Abend habe ich einen Physiotherapeuten für 80 Minuten gebucht. Dafür zahle ich knapp 12 Euro, davon kriegt der Dienstleister rund 9 Euro. Für 80 Minuten Arbeit. Ich weiß ja nicht, was Physiotherapeuten in Deutschland so verdienen, aber ich nehme an, es ist mehr. Für eine stabile Mittelschicht, die ausreichend konsumiert, reicht das nicht.“ Selbst wenn Indiens Industrie bei der Automation für den internationalen Wettbewerb schon zu weit abgehängt wäre, sei mehr Industrie zumindest für den Binnenmarkt notwendig. Um ein landesweites Einkommen zu erreichen, mit dem sich jeder Dienste wie Urbanclap leisten könnte, müssten massenhaft Stellen in der Industrie entstehen. Doch hier hat das Land laut Kulkarni bislang kaum etwas erreicht. „Nennen Sie mir ein Gerät in Ihrem deutschen Haushalt, das vollständig aus Indien stammt. Nur eines, dann ziehe ich meinen Punkt zurück.“
Schuld seien vor allem archaische Arbeitnehmerrechte. So muss jeder Produzent in Indien mit mehr als 100 Mitarbeitern vor jeder Kündigung die Erlaubnis der Regierung erbitten. Ein monatelanger Vorgang, der selten positiv beschieden wird. Grundlage dafür ist ein Gesetz aus dem Jahr 1947, das neben der Höhe der Urinale auf den Mitarbeitertoiletten auch die Anzahl der mit Sand gefüllten Eimer vorschreibt, die in der Produktionshalle zum Feuerlöschen bereitstehen oder in welchen Intervallen die Maschinen aus Hygienegründen mit Limettenwasser gereinigt werden müssen. Wer um diese so gut gemeinten wie aus der Zeit gefallenen Regeln herumkommen will, muss sich durch die Instanzen bestechen. Das ist mühsam, teuer und illegal.
Eine neue Unternehmergeneration
„Wir brauchen neue Unternehmen. Große Unternehmen. Viele davon“, sagt Bhal, der Teil jener neuen Generation ist, die im Aufschwung Indiens für sich eine historische Chance sieht. Immer mehr Kontakte seines Telefonbuchs, mit denen er sich sonst nur alle paar Jahre treffen konnte, weil sie überall auf der Welt wohnten, nur nicht in Indien, kehren nun zurück. Selbst Kinder der zweiten Generation, die das Land ihrer Eltern nur aus dem Kino kennen.
Plötzlich sind Erfolg und Reichtum nicht länger einer kleinen Elite vorbehalten. Bhal wuchs in einem Mittelschichtshaushalt auf, der Vater Soldat, die Mutter Lehrerin. Er gehört damit zwar immer noch zur überschaubaren und privilegierten Mittelschicht, ist aber weit entfernt von der Lebenswirklichkeit einer Familie Ambani, die in ihrem Eine-Milliarde-Dollar-Hochhaus wohnt und bei Hochzeiten gern mal einen Diamanten für 38 Mil- lionen Euro verschenkt.
Tatsächlich ist Geld derzeit das geringste Problem für Gründer. Allein in den ersten neun Monaten des Jahres 2019 ist die Höhe des vergebenen Wagniskapitals im Vergleich zum Vorjahr um 25 Prozent auf knapp 10 Milliarden Euro gestiegen. „Manche warnen schon vor Kapitalüberschuss und einer Blase“, sagt Abhiraj Bhal.
Er kennt den Markt, hat drei Jahre als Berater bei der Boston Consulting Group gearbeitet. Mit Mitte 20 ging er damals im feinen Zwirn in Vorstandsetagen ein und aus und hatte mehr Umgang mit Aufsichtsräten und Vorstandsmitgliedern als mit Gleichaltrigen. „Das ist mir damals etwas zu Kopf gestiegen“, sagt er heute. Es bedurfte einiger Zeit und einiger guter Freunde und vielleicht auch des Scheiterns seines ersten Start-ups wenige Jahre später, bis dieser Hochmut zu einem immer noch unübersehbaren Selbstbewusstsein schrumpfte. Wenn er heute erklärt, warum seine Firma erfolgreich sein wird, vergleicht er sie mit Amazon. Drunter macht er es nicht.
Bhal hat sechs Finanzierungsrunden hinter sich, die jüngste brachte ihm 68 Millionen Euro. Er weiß, wann im Gespräch der richtige Zeitpunkt ist, um eine Weltbankzahl zu zitieren; er weiß, dass es wichtig ist, von seinen Handwerkern stets als Partnern oder Service-Professionals zu sprechen; er weiß, dass er eine Vision haben muss und dass er sie im Wortlaut wiederholen muss, damit sie sich einprägt; er weiß, dass man bei längeren Reden alle 15 Minuten eine kleine Anekdote einstreuen sollte, etwas Persönliches, etwas Heiteres, damit die Zuhörer sich nicht langweilen und das Menschliche im Sprecher sehen. Kurz: Er weiß, wie man sich verkauft.
In seiner knappen Freizeit läuft er Marathon und schwitzt bei Crossfit, einer Art Trimm-dich-Pfad, nur drinnen und teuer. Was Bhal an körperlicher Länge zum männlichen Alpha-Manager der alten Welt fehlt, macht er mit antrainierter Breite wett. Man könnte sagen: Er füllt seine Hemden gut aus. Wenn beim Sprechen unwillkürlich sein Bizeps zuckt, ist es, als setze im Ärmel seines Polo-Hemdes ein Tigerpython zur Attacke an. In seinem Büro fehlt der szenetypische Kickertisch, dafür gibt es einen Fitnessraum, der den besten Blick der Etage bietet. „Führung bedeutet Ausführung“, sagt Bhal, „it’s all about execution“, und es klingt ein bisschen nach Hinrichtung.
Oberstes Ziel ist für ihn die Kundenzufriedenheit: Dem ist alles andere unterzuordnen, daran haben sich alle Mitarbeiter zu halten. Wie bei Amazon. Im Gespräch ist seine Miene meist eisern, jede Rede fehlerfrei strukturiert.
Eine unromantische Gründung
Als er 2014 seine Beraterstelle kündigt, gründet er seine erste Firma. Einen Streaming-Dienst für lange Flug- und Bahnreisen. „Das war die klassisch-romantische Gründergeschichte: Zwei Freunde fahren zur Hochzeit eines Freundes, stoßen auf ein Problem, erkennen darin ein Geschäft und gründen eine Firma. Ohne jede Marktstudie oder Strategie, wir haben das einfach gemacht“, sagt Bhal. Er investiert mit seinem Geschäftspartner Varun Khaitan rund 15.000 Euro. Das sind beinahe seine gesamten Ersparnisse – die Firma scheitert wenige Monate später.
Doch die beiden lernen aus ihren Fehlern, schließen sich mit einem weiteren Leidensgenossen zusammen, Raghav Chandra, der damals mit Mühe sein Ein-Mann-Unternehmen zur Vermittlung von Rollerfahrten am Leben hält. Diesmal wollen sie nüchtern und analytisch vorgehen. Nach vier Monaten, unzähligen Analysen und Studien einigen sie sich auf eine Idee, die sowohl langweilig klingt (Plattform für haushaltsnahe Dienstleistungen) als auch ausgesprochen kapitalintensiv ist (stark umkämpfter Riesenmarkt). So beginnt die Geschichte von Urbanclap im Herbst 2014 wie gewünscht ohne rührselige Gründeranekdote. Bhal sagt: „Das Ganze ist eine ziemlich langweilige Angelegenheit“, und er scheint damit sehr zufrieden.
Bei der Akquise folgen sie einer eisernen Strategie: niemals um Geld bitten. Obwohl sie nichts dringender brauchen. Im Jahr 2014 arrangieren sie über Bekannte ein Treffen mit Kunal Bahl, dem Gründer von Indiens größtem Versandhändler Snapdeal, der damals mit 1,5 und zwei Jahre später mit 5,6 Milliarden Euro bewertet ist. Sie geben vor, sich nur Tipps vom Meister zu holen, wollen aber im Lauf des Gesprächs ihre Idee so gut verkaufen, dass der Multimillionär anbeißt. Der Plan geht auf: Kunal Bahl setzt sich als Mentor an den Tisch und steht als Investor auf.
Der prominente Name zieht, weitere Investoren folgen. Die Firma zu gründen dauert zwei Wochen. „Heute beschweren sich manche und sagen, das Gründen müsste viel schneller gehen“, sagt Bhal, „dabei sollten sie die ersten Tage genießen, denn so einfach wie bei der Gründung wird’s nie wieder!“ Er habe unterschätzt, wie fordernd die Umsetzung ist. Was Führung bedeutet. Vor allem, dass sich die Geschäftsidee ständig weiterentwickelt: „Deine Idee ist nie fertig. Wenn du glaubst, deine Firma ist fertig, ist sie tot.“ Die vergangenen fünf Jahre vergleicht er mit dem Einsteigen in einen Pendlerzug zur Hauptverkehrszeit in Bombay: „Da gehst du nicht mehr selbst, du wirst von der Masse getragen. Du musst reagieren auf das, was kommt.“
Im Laufe der Jahre sind viele Investoren zugestiegen, unter anderem auch Ratan Tata, der Vorstandsvorsitzende der Tata-Gruppe mit rund 90 Milliarden Euro Umsatz. Urbanclap frisst sich wie ein Virus in den informellen Sektor Indiens, Dienstleister um Dienstleister, Kunde um Kunde werden infiziert vom neuen System und sind bald verloren fürs alte, das so lange überlebt hat. Im Geschäftsjahr 2019 hat das Unternehmen einen Umsatz von 14,7 Millionen Euro gemeldet, 150 Prozent mehr als im Vorjahr. Der operative Verlust stieg trotz des Wachstumskurses nur um 26 Prozent auf 9,1 Millionen Euro.
„In fünf Jahren“, sagt Bhal, „sind wir der größte Weiterbildungsbetrieb des Landes, in manchen Branchen sind wir das heute schon“ – ein ungeplanter Nebeneffekt der Pflichtkurse zur Qualifizierung. Doch Indien genügt ihm nicht. Nach den Vereinigten Arabischen Emiraten und Singapur soll nun der australische Markt folgen. Und von dort aus die ganze Welt.
Gäbe es da nicht dieses Problem: Wann immer Urbanclap Gespräche in Australien führt, sind alle ganz angetan, die Zahlen sähen super aus, die Erfahrungen aus Indien seien großartig, ja, das Geschäft müsste gut laufen in Australien, damit könnte man richtig reich werden – aber was zur Hölle habt ihr euch bei diesem Namen gedacht?! Das Wörtchen Clap, das in Indien ein harmloses Klatschen bedeutet, ist in den übrigen Ländern des Commonwealth die informelle Bezeichnung für Gonorrhoe – Urbanclap in den Ohren eines Australiers also der städtische Tripper. Die Aussicht, so etwas aus Indien zu importieren, lässt Investoren zögern.
Also steht vor der Überquerung des Indischen Ozeans noch die Umbenennung der Firma mit ihren 3.000.000 Kunden, 100.000 Dienstleistern, 1088 Mitarbeitern und 40 Niederlassungen in drei Ländern an. Bei der Gründung lag das Budget für die Namensfindung inklusive Domainkauf bei 100 Dollar. Jetzt haben sie dafür einen Naming-Consultant aus den USA engagiert, der für nun 30.000 Dollar mit UrbanCompany einen Namen gefunden hat, der keine Geschlechtskrankheit ist.