Ein Lied geht durch die Zeit


Die Männer Heiligenbluts verkünden seit Jahrhunderten die Geburt des Christkindes. Wach hält sie nur die Sturheit und der Schnaps.
Die Zeit ↗
Januar 2015

Am Anfang ist der Stern. Fern glimmt er im Schneegestöber über der Hochstraße, tänzelt fort, macht kehrt, irrlichtert durch das Gässchen entlang der Höfe und kommt allmählich näher. Dann lösen sich mit ihm ein paar Gestalten aus dem Grau. 17 Männer in Lodenmänteln, allen voran der alte Brandstätter Simon, der den Stern am hölzernen Stab bald sechzig Jahre durch die Berge trägt. Und ihn an einer Schnur um die eigene Achse dreht. Früher, als der Nachttopf winters unterm Bett gefror, da war das Licht im Stern noch nicht elektrisch, sondern eine Kerze. Vergaß man das Drehen, versengte ihre Flamme das dünne Papier, und man lud großes Unheil auf sich.

Zwölfzackig, bemalt und golden leuchtend, dreht er sich für den ersten Hof der Nacht, vor dem ein Mütterchen mit weißem Haar ergriffen in der Kälte steht. Im Halbkreis um sie die 17, die Sänger vorn, die Bläser hinten und in der Mitte der Brandstätter Simon mit dem großen Stern. Ihre Hände hält die Frau fromm vor dem Körper gefaltet. Vieles hat sich geändert im Laufe ihres langen Lebens, doch die Dreikönigsnacht ist genau wie einst, da sie als kleines Mädchen mit der Urgroßmutter vor der Türe stand.

Ihr Hof liegt in Heiligenblut am Ende des Mölltals. Dahinter thront das Glocknermassiv mit seinem Gletscher. Dort endet das Tal und die Straße und, wie es scheint, auch die Zeit. Jahrhundertelang waren die Bewohner des Kärntner Dorfs auf sich allein gestellt. Sie trotzten der kargen Natur ein Überleben ab und erhielten sich ihre Bräuche.

Das traditionelle Sternsingen war im 16. Jahrhundert weit verbreitet in Österreich und Deutschland. Dabei zogen Männer alljährlich von Haus zu Haus und verkündeten die Geburt Christi – wie einst die drei Weisen aus dem Morgenland, denen der Stern von Bethlehem den Weg gewiesen hatte. So, mit lauter Erwachsenen, machen das heute nur noch die Heiligenblütler. Da ihre Höfe weit verstreut liegen, sind die Männer bis in die frühen Morgenstunden unterwegs. Sie drehen vor jeder Tür den Stern und singen ihr vierzehnstrophiges Lied. Sechzig Mal in dieser Nacht.

Für die gut tausend Dorfbewohner sind neun sogenannte Rotten im Einsatz. Die Hofer Rotte mit dem Brandstätter Simon an der Spitze kümmert sich um den Dorfkern. Ihr erstes Sternlied der Nacht haben sie jetzt gesungen. Das Mütterchen sagt: „Vergelt’s Gott!“, die Männer wünschen: „Gut’s neu’s!“, und schreiben mit Kreide ihren Segen über die Tür. Das Mütterchen steckt dem Vorsänger einen Schein zu und teilt Schnäpse gegen die Kälte aus. Es ist kurz nach fünf, das Schneetreiben hat sich gelegt, und die Berge verblassen im Dunkel.

Am Apartment Sonne singt die Hofer Rotte für eine überraschte Familie aus Deutschland. Die Gäste waren nicht vorbereitet auf das nächtliche Treiben. Verlegen treten sie von einem Bein aufs andere, während ihnen 17 Männer und ein Stern ausführlich von der Geburt des Heilands künden. Am Ende gibt es auch für sie den Segen und für die Tochter, noch mit Skihelm, ein Zuckerl auf die Hand.

Im Nachbarhof wartet die Frau eines Sängers. Nach dem obligatorischen Sternlied lässt sie die Rotte ein und darf sich dafür eine Zugabe wünschen. „Es ist ein Ros entsprungen – wie jedes Jahr.“ Die Bauernstube mit der niedrigen Decke ist gut geheizt, und die Wangen der Sänger beginnen bald zu glühen. Nur die Bläser müssen im Kalten warten, für sie ist kein Platz mehr im Inneren. Während die Sänger singen, trägt die Frau des Hauses Bier und Jause auf. Zum Abschied gibt’s noch einen Schnaps gegen die Kälte, dann geht’s weiter zum nächsten Hof. Sie sollen wiederkommen, sagt die Frau, wenn sie fertig sind.
Gut ein Dutzend Mal auf ihrer Runde werden die Sänger eingelassen. Das bedeutet: zwölf Mahlzeiten in einer Nacht. Dazu stets ein Bier. Und mindestens einen Schnaps gegen die Kälte. Dabei wird heuer schon weniger getrunken als früher, als Schnaps noch ein Luxusgut war, das man unmöglich zurückweisen konnte. Aber damals gab es auch kein florierendes Hotelgewerbe im Tal, und die Männer konnten am 6. Januar schlafen, solange sie wollten.

Kaum haben die Hofer zwei weitere Häuser angesungen, sind sie im Senger Hof zu Gast, wo einst Luis Trenker residierte. Und während die Tuba auf dem Wirtshausboden Kondenswasser sammelt, essen der Brandstätter Simon und seine Rotte Schweinsbraten. Dazu ein Bier und natürlich einen Schnaps gegen die Kälte. Draußen jagen Wolkenfetzen über den dunklen Himmel. Aus allen Winkeln erklingt die Melodie des Sternlieds, eines einfachen Hirtenlieds aus dem 16. Jahrhundert.

Ein paar Hundert Meter höher stapft die Untertauer Rotte durch die Serpentinen im Tiefschnee. Die Höfe dort liegen mit schwachem Schein wie verglühende Scheite einsam im Hang. Man hat das Gefühl, die Sänger werden hier noch sehnlicher erwartet. Der Pichler Ernst ist ihr Vorsänger. Seine Rotte ist jünger als die drunten im Dorf, weil ihr Weg beschwerlicher ist. Er führt sie bergab durch dichten Nadelwald, vorbei an Fichten und Lärchen. Dazwischen, selten, die begehrte Zirbe mit ihrem einzigartigen Duft und den Zapfen, die, zum Schnaps gebrannt, in eisiger Nacht neuen Mut versprechen.

Auf halbem Weg zur nächsten Alm hält der Zug inne. An einem kleinen Kreuz ehren die Männer einen Sangesbruder, der hier vor acht Jahren beim Holzhacken von einem Baum erschlagen wurden. Als sie ihr Lied anstimmen, wecken sie einen Schwarm Bergfinken, der in einer dichten Wolke das Weite sucht.

Am nächsten Hof singen die Männer wieder alle vierzehn Strophen, drehen den Stern, stecken den Töchtern ein Zuckerl zu, nehmen einen diskret gefalteten Geldschein entgegen und trinken einen Schnaps gegen die Kälte. Während die Blicke der Sänger trüber werden, klart die Nacht mit jeder Stunde auf. Schon sind am Himmel mehr Sterne zu sehen als Höfe am Hang. Hinter dem Stall, im Schatten des Mondes, hängt die Figur des Gekreuzigten, ausgemergelt und blutig. Sieh her, erkenne deine Schuld und so weiter. Doch in dieser Nacht, in der die Alten lange vor den Türen harren, strahlt alles Anmut aus.

Immer wieder öffnen sich die Stubentüren für die Sänger. Gerade servieren vier Frauen in Trachten Gulasch aus Edelstahltöpfen, so groß, dass man Kinder darin baden könnte. Auf der Bank sitzt der Opa mit zitternder Hand, den Enkel auf den Knien. Er stampft zum Takt der Musik. Seine Frau sitzt neben ihm und strahlt: „Vergelt’s Gott, ihr werdt ja jed’s Jahr besser!“

Kalt ist den Sängern schon lange nicht mehr. Sie sind anderes gewohnt vom Leben in den Bergen, und der Winter ist dieses Jahr mild. Vom Wetter haben sie sich noch nie unterkriegen lassen; selbst im Lawinenwinter 1951 sind sie gelaufen. Stur wie ihr Vieh. Der Schachner Hannes war vor ein paar Jahrzehnten mit gebrochenem Fersenbein auf Krücken dabei. Der Vater vom Wallner Hannes ist noch mit seiner Einberufung zum Weltkrieg gelaufen, zwei Tage später ging es an die Front. Und während des Krieges, da sind die Frauen gelaufen. Einer muss es ja machen.

Als im Jahr 2010 die Unesco das Heiligenblutler Sternsingen ins immaterielle Weltkulturerbe aufnahm und der Bundespräsident zur Ehrung ans Ende des Mölltals reiste, da freuten sich die Rotten. Der hohe Besuch wünschte sich das Sternlied von ihnen, aber das haben sie ihm nicht gespielt. Das gibt’s nur zur Dreikönigsnacht. So ist der Brauch, und so bleibt er.

Hof für Hof arbeitet sich die Untertauer Rotte ins Tal, wo die Hofer Rotte unablässig eingelassen wird, weiterzieht und eingelassen wird. Die schlimmste Müdigkeit zeigt sich gegen vier Uhr, wenn das Blinzeln beim Singen länger wird und der Hirtenstab als Stütze dient.

Am Morgen, wenn die letzten Höfe in Aussicht sind, kommt frischer Wind in die Rotte. Die Singstimmen sind noch weitgehend klar, die Sprechstimmen einen Halbton tiefer. Um zehn vor sechs stellt sich die Hofer Rotte vor dem letzten Haus der Nacht auf. Der Stern dreht sich langsamer als vor dreizehn Stunden, aber er dreht sich. In der Pension Gletscherblick gibt es noch einmal Nudelsuppe, Bier und einen Schnaps gegen die Kälte oder was auch immer. Gelacht und gescherzt wird noch immer, gesprochen weniger. Man versteht sich auch so. Der Brauch dient nicht zuletzt dazu, alten Zwist zu begraben. Beim Singen öffnet man sein Herz und lässt ein hartes Jahr hinter sich.

Auf der Eckbank neben den Lodenmänteln liegen die grünen Gesangsbüchlein, von denen jeder Sternsinger eines hat. Die meisten der 39 Lieder kennen sie auswendig. Die Alten mussten noch alle beherrschen, ehe sie auch nur zur Probe zugelassen wurden. Heute sind die Bedingungen gelockert. Es mangelt am Nachwuchs im Dorf, da sind die Männer froh über jeden Bub mit guter Stimme.

Während der Schachner Hans den Geldsack auf dem Tisch entleert, zieht die Dämmerung vom Taleingang herauf, klar und blau wie Gletschereis. Auf dem Tisch wachsen die Häufchen mit kleinen und größeren Scheinen. Bei neun Rotten kommt schnell ein fünfstelliger Betrag zusammen. Der geht nicht, wie bei den Kinder-Gesangszügen anderswo in Österreich üblich, an ein katholisches Hilfswerk, sondern bleibt im Dorf. Einen kleinen Teil behalten die Männer für sich, um Mäntel zu flicken und Instrumente zu reparieren. Den Großteil des Geldes aber verteilen sie an Bedürftige. Wenn ein krankes Kind regelmäßig ins ferne Krankenhaus muss, wenn der Tod einer Mutter bei der Geburt eine Lücke in die Familie reißt, wenn einem Vater beim Holzschlagen der Rücken zertrümmert wird, dann tun sich die Rottenführer zusammen und helfen. Egal, ob sie den Nachbarn mögen oder nicht. Weil jeder die Schicksale ringsum kennt und weiß, dass er der Nächste sein könnte, steckt auch das Mütterchen mit der mageren Rente den Männern mit dem Stern einen großen Schein zu.

Während über dem schneebedeckten Großglockner hell die Venus strahlt, wankt die Rotte dem letzten Absacker dieser Nacht im Hof des Sangesbruders entgegen.